16 Geschichten Verzeichnis

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Während rund fünfzig Jahren schrieb Felix Feigenwinter Geschichten, neben seinen hauptberuflichen Beschäftigungen als Journalist und Redaktor, als Museumsangestellter, später als Sozialversicherungsbeamter und zuletzt als selbständiger Buchverleger. Die Geschichten sind geprägt von einer melancholischen Menschen- und Welt- beziehungsweise Alltagsbetrachtung. Im Mittelpunkt stehen Einzelgänger männlichen und weiblichen Geschlechts, manchmal Psychiatriepatienten, deren Befindlichkeiten und individualistisch-subversive Haltungen geschildert werden, und ihre Verstrickungen in skurrile, zuweilen groteske Geschehnisse.    

GESCHICHTEN VON SONDERLINGEN

von Felix Feigenwinter

Der Frühling im Büro

Das Rufen der Mutter

Das Produkt

Familienausflug

Besuch in einer Klinik

Die Lesung

Intervention eines Erleuchteten

Evas Ausflüge

Ein Schweizer am Meer

Blockzeit

Der Verrat

Der Retter

Keine grosse Liebe

Das Lachen in der Nacht

Der Sohn und die Freundin

Ankündigung im Herrenzimmer

Der Frühling im Büro

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Von Felix Feigenwinter

Das Amt, in dem der Abteilungsleiter Fridolin Knoll und der Sachbearbeiter Herr Knüsel seit Jahren tagaus tagein ihren Dienst versehen, hatte mit der Einstellung von Frau Röösli eine sonderbare Veränderung erfahren:

Wenn der Abteilungsleiter das Büro betrat, begrüsste ihn Frau Röösli von einem der Computertische herunter, wo sie barfüssig an neuen Vorrichtungen für die Schlingpflanzen bastelte. Sachbearbeiter huschten giesskannenbewehrt durch die Gänge. Andere versteckten sich im grünen Dickicht ihrer Arbeitsplätze und flüsterten Liebeserklärungen ins buschige Laub, streichelten zärtlich aufkeimende Sprösslinge. Mit Lupengläsern suchten sie nach Läusen. Wurden sie fündig, fingen sie Marienkäfer, denen sie die Blattläuse zum Frass vorsetzten. Aus dem Gebüsch flötete eine chinesische Nachtigall. Sie pickte den Sachbearbeitern aus der Hand, jagte und verschlang aber auch Marienkäfer. So wuchs die Lauspopulation. Dies wiederum gefährdete das Wachstum der Pflanzen.

Während einer Geschäftsleitungssitzung schilderte der Abteilungsleiter die drastischen Veränderungen seit dem letzten Urlaub. Nach einem Augenschein beschloss die Direktion, das Büro räumen zu lassen. Frau Röösli wurde entlassen.

Ein Jahr nach diesen Vorfällen schreitet der Abteilungsleiter Fridolin Knoll  zum Fenster, öffnet es gewissenhaft, beugt sich über das Gesims, schnuppert forschend, tritt zurück, breitet die Arme aus und verkündet mit ergriffener Stimme: „Der Frühling hält seinen knospenden Einzug!“ Das Büro erstarrt ob solchen Worten, die Beamten blicken verzerrt und verzückt auf den knospenden Strauch vor dem Fenster, der Mutigste wagt eine beipflichtende Bemerkung. Die dienstälteste Sachbearbeiterin eilt zum Fenster, schliesst es beflissen und sachte, worauf Herr Knoll durchs Büro flaniert, sich scheinbar prüfend über ein  herumliegendes Dossier beugt. Fragte man ihn, was er im Dossier suche, er vermöchte es, so wird seit langem vermutet, nicht zu erklären. Seine Bewegungen ähneln den salbungsvollen Verbeugungen der Priester in den Hochämtern mit Segen.

Frau  Wunderlich hat Herrn Knolls Frühlings-Zeremonie verstohlen vom Computertisch aus verfolgt. Ein Gespenst hat sie besucht. Vorletzte Woche begegnete es ihr auf dem Heimweg, im Abenddämmer, und seither folgt es ihr Tag für Tag. Es wartet im Bürovorraum und begleitet sie nach Hause. Nachts setzt es sich auf ihre Brust und schleicht sich in ihre Träume ein. Manchmal vergisst sie es während der Arbeit. Dann glaubt sie, es sei ein Traumgespenst. Zwischen dem Computergeplapper hört sie sein Schnalzen durch die Empfangshalle schallen; sie riecht es und hat das Gefühl, es laure hinter einer Ritze der Bürotür, luge durch die Glasscheibe des Publikumsschalters.

Frau Wunderlich hämmert wie wild auf die Computertasten. Ihre Kollegen sehen sie prüfend, fast scheu an. Sie legen ihre Arbeit zur Seite, spähen nachdenklich durch die Fensterscheibe auf die Vögel im Strauch. Das hektische Klappern erinnere sie an das Zerkleinern von Suppengemüse auf einem Hackbrett, erklärt Frau Knoblauch, die dienstälteste Sachbearbeiterin. Der sonst so schweigsame Herr Knüsel räuspert sich und deklamiert mit anschwellender Stimme:

„Die Amsel vor dem Fenster singt

die Sonne durch die Scheibe strahlt

der Kosmos in das Büro dringt

das Amt den Lohn mit Küssen zahlt!“

Gestern hatte Frau Wunderlich Herrn Knüsel gefragt, ob er sie abends, nach der Arbeit, in eine Gartenwirtschaft begleite. Unter einem Kastanienbaum tranken sie grosse Biere. Im Abenddämmer leuchtete Knüsels Haarschopf wie ein Hahnenkamm. Tanzende Fledermäuse umschwirrten die Gäste. Auf die Rückseite einer Getränkekarte schrieb der Büropoet ein  Gedicht, das er Frau Wunderlich überreichte.

Heute, frühmorgens, hing Knüsels Gedicht am Informationsbrett im Verwaltungsbetrieb; der Bürovorsteher Fridolin Knoll stand kopfschüttelnd davor. Alsdann riss er die Karte vom Brett, zerknüllte sie und warf sie in den Papierkorb.

Herr Knoll wischt sich Schweissperlen von der Stirn, bevor er sich würdig schnäuzt. Er spricht davon, sich vielleicht frühzeitig pensionieren zu lassen.

Der Büroalltag nimmt seinen geordneten Fortgang.

Das Rufen der Mutter

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Von Felix Feigenwinter

An einem strahlenden Frühlingstag im April, nachdem der Wirt „Hinausstuhlen!“ befohlen hatte, trug Ueli Moser Getränke ins Freie, die unter knospenden Kastanienbäumen sitzende Gäste bestellt hatten. Weil er ein verhinderter Buchhändler und kein ausgebildeter Kellner war, konzentrierte er sich auf die für ihn ungewohnte Arbeit mit angestrengter Aufmerksamkeit, um die ihm anvertrauten Aufgaben möglichst tadellos zu verrichten. Doch während er das grosse Servierbrett mit vielen gefüllten Tassen und Gläsern sorgfältig aus dem Gasthaus in den Garten balancierte, vernahm er unerwartet die Stimme seiner Mutter. Diese spazierte zufällig am Gartenrestaurant vorbei und entdeckte den Sohn, der soeben das beladene Tablett heraustrug. Sie rief seinen Namen: „Ueli!“, und das Tablett schmetterte auf den Kiesboden. Die ausgeschütteten Flüssigkeiten,  Scherben zerbrochener Gläser und Tassen, über den Kiesboden verstreute Kaffeelöffel, aber auch die teils erschrockenen, teils empörten, teils hämischen Blicke von Gästen, sogar das gutmütige Lachen des Gastes, über dessen Hose ausgeschüttetes Bier geflossen war, und die wohlmeinende, beschwichtigende Bemerkung dieses Herrn: „Scherben bringen Glück!“ verwirrten Ueli so sehr, dass er ausserstande war, das Rufen seiner Mutter, die er schon seit vielen Monaten nicht mehr gesehen hatte, angemessen zu erwidern.

Da der Wirt seinem Hilfskellner vorwarf: „Sie machen mir meine Gäste kaputt!“, war Uelis junge Kellnerlaufbahn bereits beendet. Aber der Gast, dessen Hose mit Bier überschüttet und dessen Frühlingspullover mit Kaffeespritzern befleckt worden war, ein Herr Bader, zeigte Mitleid und war hilfsbereit; er bot Ueli eine neue Stelle in seinem Laden an. Herr Bader war Buchhändler wie Uelis früherer Chef, Ivo Schluchzer, der in einer Vollmondnacht schwer verschuldet in den die Stadt durchquerenden Fluss gestürzt und ertrunken war. Dieser Tod hatte Ueli gezwungen, seine Buchhändlerlehre abzubrechen und vorübergehend als Aushilfskellner zu arbeiten.

Doch nun konnte Ueli Moser fortan wieder in einer Buchhandlung Kunden bedienen und Geld verdienen!

In Herrn Baders Geschäft verbrachte Ueli ruhige Zeiten. Der Chef liess ihn stunden-, manchmal tagelang allein zwischen den dicht neben- und übereinander versammelten Büchern. Den engen, schmalen Altstadtladen betraten meist ruhige Menschen, die Uelis Beratungsbereitschaft nur sparsam beanspruchten, in sich versunken den hohen Regalen entlangschnüffelten oder wortkarg vor dem Tisch verharrten, auf dem sich die Neuerscheinungen türmten. Viele dieser Bücherwürmer, meist vertraute Stammkunden, schienen kein Interesse an einem Gespräch mit dem Hilfsbuchhändler zu bekunden; sie begnügten sich mit einigen banalen Bemerkungen an der Kasse, wo Ueli den Verkaufspreis der ausgewählten Ware registrierte, das Geld entgegennahm und die Bücher auf Wunsch manchmal in ein Geschenkpapier wickelte und in einer Plastiktüte versorgte. Obwohl Ueli seine Buchhändlerlehre nie beendet hatte, hielt er sich selber für einen gut informierten Literaturfreund, der sein Wissen gerne an Rat suchende Kunden weitergegeben hätte.

Sorge bereitete ihm der spärliche Kundenzustrom. Er fragte sich, ob der schleppende Bücherverkauf Herrn Bader nicht doch eines Tages dazu veranlassen müsste, seinen kleinen altmodischen Laden aufzugeben und seinen einzigen Angestellten zu entlassen. (In der liquidierten Buchhandlung des im Strom ertrunkenen einstigen Lehrmeisters Schluchzer, wo freilich mehrere Angestellte beschäftigt waren, hatte ein weitaus lebhafterer Betrieb geherrscht, und trotzdem ging das Geschäft bankrott.) Aber Herr Bader versuchte Uelis diskret vorgebrachte Bedenken mit einem flotten Spruch zu zerstreuen; er sei ein leidenschaftlicher Buchhändler, verstehe aber trotzdem etwas von Buchführung, sagte Herr Bader, der alles Administrative stets selber oder durch seine Frau erledigt haben wollte; in die Gewinn- und Verlustrechnungen und die Jahresbilanzen gewährte er Ueli keinen Einblick.

So verweilte Ueli in Herrn Baders Laden, ohne dass er seine Mutter wieder gesehen hätte, die seit dem frühen Tod seines depressiven Vaters mit einem fremden Mann zusammen lebte.

An einem trüben Nachmittag war Ueli damit beschäftigt, einer jungen Kundin, die er zum erstenmal bediente, mittels Computersuche einen Buchtitel ausfindig zu machen, als die Witwe Monika Moser, Uelis Mutter, die Buchhandlung betrat. Der Sohn erschrak; er drückte auf eine falsche Taste, so dass das Computerprogramm abstürzte. Auch die Mutter erstaunte Uelis Anwesenheit in diesem Laden, sie rief überrascht: „Ueli!“

„Einen Moment, bitte, ich bin gerade beschäftigt“, antwortete der Sohn mit einer Verzweiflung in der Stimme, die die junge Kundin aufhorchen liess, und er fuchtelte mit der linken Hand in die Richtung, wo seine fassungslose Mutter stand, als ob er ein Gespenst vertreiben wolle.

Nachdem er den eher ausgefallenen Wunsch der Kundin endlich befriedigt hatte (sie suchte die vor vielen Jahren im Luchterhand-Verlag erschienenen „Windgeschichten“ von Adelheid Duvanel, ein Buch, das nur noch antiquarisch erhältlich war, und Ueli konnte die Rarität im Internet ausfindig machen und für die junge Frau bestellen), wandte er sich an seine wartende Mutter.

Ihre Küsse erwiderte er mit einem verstörten Lächeln, und geduckt lauschte er ihren Worten:

„Du hast dich lange nicht mehr gemeldet, lieber Sohn, ich habe versucht, dich zu finden, aber du bist umgezogen. Meine Briefe kamen zurück, weil die Adresse nicht stimmte. Das Letztemal sah ich dich im Wirtshausgarten, wo du Kellner warst! Ich wusste nicht, dass du wieder als Buchhändler arbeitest… das passt besser zu dir! Besuche uns doch bitte einmal!“

Ueli lächelte gequält, spähte immer wieder zur Ladentür, um zu sehen, ob vielleicht neue Kundschaft das Lokal beträte, was freilich nicht der Fall war.

„Du weisst, dass ich meinen sogenannten Stiefvater nicht leiden kann“, versuchte er nun zu erklären, „und er mag mich nicht. Es hat keinen Sinn, dass ich euch besuche. Das gibt unerträglichen Streit, das solltest du doch nun wirklich wissen!“

„Dann könnten wir uns beide einmal draussen in einem Café treffen? Nur wir zwei!“, bettelte die Mutter.

„Ja, vielleicht“, wich Ueli vage aus, „aber nicht in diesem Laden! Hier muss ich mich auf meine Arbeit konzentrieren… sonst gehe ich kaputt!“

„Keine Angst!“, beschwichtigte die Mutter; ihre Augen wurden wässerig. „Ich wusste nicht, dass ich dich hier finde! Ich wollte ein Büchlein für meine Nachbarin kaufen. Ich besuche sie morgen im Krankenhaus, sie musste sich operieren lassen.“

Ueli beriet und bediente seine Mutter, wickelte das Büchlein, Texte der Solothurner Dichterin Olga Brand, in Geschenkpapier, versorgte die Gabe in eine Plastiktasche und geleitete die Mutter zum Ausgang, wo er sich küssen liess.

„Ich werde mich schriftlich bei dir melden, ich versprech’s!“, rief er ihr nach, in die Altstadtgasse hinaus, in der sich die Mutter zögernd entfernte. Dann zog er sich in den menschenleeren Laden zurück, wo er auf einen Stuhl sank und sein Gesicht in beide Hände vergrub. Er entsann sich des Rufens der Mutter aus einem Fenster des Hauses, wo er einst vor dem Tod seines Vaters zusammen mit den Eltern gewohnt hatte. Als kleines Kind verbarg er sich oft im Garten hinter dem Haus in einem Strauch; die vertraute Stimme, die „Ueli!“ rief, drang in sein Versteck, aber die Mutter konnte ihn nicht sehen; er fühlte sich geborgen.

Aber nun betrat ein Mann den Laden, Herr Hatt, ein Stammkunde, der Sachbücher kaufte, die Ueli nicht interessierten. Während Ueli Herrn Hatt bediente, überfiel ihn ein Weinen, was Herrn Hatt missfiel.

Ueli unterliess es, sich zu entschuldigen.

*

Am Himmel gleissten Lichtflecken, doch ungestüme finstere Wolken verdüsterten die Stadt; durch die Strasse hastete ein kühler Wind. Es war nun Sommer, Ende Juni, aber Ueli wurde von einer herbstlichen Stimmung erfasst, als er das Tram verliess. Dämmer umfing die Häuser, obwohl der Abend noch jung war. Aus der benachbarten Parkanlage wirbelten vereinzelte Baumblätter zur Tramhaltestelle. Ueli wunderte sich über die sonderbare Veränderung – als er das Tram in der Innenstadt bestiegen hatte, wähnte er sich, sonnenbeschienen, noch in sommerlicher Stimmung. Nun stolperte er, als er dem Fussgängerstreifen zustrebte, über den Randstein, vielleicht über ein anderes hartes Hindernis, das er übersehen hatte, wie ihm schien. Jedenfalls stürzte er, Kopf voran, auf den Asphalt.

Da er in der linken Hand ein Büchlein umklammerte, das er sich in Herrn Baders Laden eingepackt hatte, um es seiner Mutter zu schenken, die er morgen Sonntagabend in einem nahen Restaurant zu treffen beabsichtigte (Luisa Famos, Poesias Gedichte, erschienen 1995 im Arche Verlag , Zürich), war es ihm nicht gelungen, den Aufprall seines Gesichts auf dem Boden abzufangen. Als er aus einer kurzen Ohnmacht erwachte, umringten ihn drei hilfsbereite Frauen. Die eine reichte ihm die Brille, die er beim Sturz verloren hatte und die nun zerbrochen war. Eine andere steckte ihm, nachdem sie ihm beim Aufstehen geholfen hatte, eine Packung Papiertaschentücher zu, da seine zerschlagene Nase heftig blutete, aber die Aufforderung der dritten Passantin, sich in der Notfallstation des Kantonsspitals verarzten zu lassen, schlug er aus, da er unter keinen Umständen das Rendez-vous von morgen Abend verpassen wollte und nun befürchtete, er könnte im Spital Tage lang festgehalten werden. Erst während er wegflüchtete, hörte er eine beschwörende Stimme rufen: Man sollte den Kerl anzeigen, der Sie zusammengeschlagen hat!

Auch tags darauf war ihm elend zumute, und er beschloss, das Treffen am Abend zu verschieben. Er telefonierte seiner Mutter und erzählte ihr auf das Tonband von seinem Missgeschick. „Mein Gesicht ist bös entstellt“, teilte er ihr mit, „ich kann es nicht einfach abstreifen wie eine Fasnachtslarve. Meine Nase ist unanständig angeschwollen und mit einer schwarzroten Blutkruste umhüllt, mein Gesicht erinnert an eine Mischung zwischen Frankensteins Sohn und Graf Dracula. Wegen starken Blutergüssen sind meine Wangen aufgedunsen und schimmern violett-grünlich-schwefelgelb, meine Augenlider sind zugeschwollen und blutrot – ich bin eine aus einer Geisterbahn entsprungene Schreckensgestalt! Würde ich heute Abend dergestalt im Restaurant auftauchen, würde ich die gesamte Gästeschar vor den Kopf stossen und das Servierpersonal erschrecken. Zudem quält mich ein stechender Schmerz im linken Arm, unter meiner Schädeldecke brennt es verdächtig, ich vermute, eine Hirnerschütterung!“ Den unbekannten Rohling und dessen Faustschlag, den er verdrängt hatte, noch während ihn dieser traf, aber auch die Stimme, die ihn daran erinnerte, erwähnte Ueli nicht, als er zur abwesenden Mutter sprach.

Nun legte er sich ins Bett und versuchte, zu schlafen; das Läuten des Telefons ignorierte er.

Am nächsten Morgen, es ist Montag, ist Uelis Gesicht immer noch geschwollen und vielfarbig; die Schmerzen im Arm und Kopf haben sich kaum verflüchtigt. Seine Umwelt kann er ohne Brille nur noch verschwommen wahrnehmen. Trotzdem drängt es ihn zur Arbeit, denn Herr Bader, der Ladenbesitzer, ist mitsamt seiner Frau ins Ausland verreist; heute ist Ueli für das Oeffnen und Betreiben der Buchhandlung allein verantwortlich. Die blutverkrustete Nase versucht er unter einem grossen Pflaster zu verbergen. So erblickt ihn Frau Moser am späten Vormittag im Laden zwischen den Bücherregalen; sie beginnt sofort zu weinen, und der Sohn legt die Hand seines schmerzfreien rechten Arms tröstend auf die Schulter der Mutter.

Für die Pflege privater Sentimentalitäten bleibt indes nur wenig Zeit: Zwei ernsthafte Kunden betreten den Laden, verlangen Ueli als Buchhändler.

Am darauffolgenden Tag, abends, besucht Frau Moser ihren Sohn in dessen Wohnung. Ueli lässt sich von der Mutter verkrustetes Blut von der Nase ziehen. Und wieder verschweigt er, dass er auf der Traminsel nicht ungeschickt gestolpert war, wie er ihr erzählt hatte, sondern von einem Wildfremden geschlagen und zu Fall gebracht wurde, was er sich zuerst selber nicht hatte eingestehen wollen – eine vulgäre Hässlichkeit, die er von seiner Mutter unter allen Umständen fernzuhalten gedenkt.

Zusammen betreten sie nun den kleinen Balkon der Zweizimmer-Mietwohnung und betrachten den Abendhimmel.

„Dieses Licht, diese Wolken!“, staunt die Mutter.

Eine Wolke schiebt sich zwischen die Industrieschlote am westlichen Rand der Stadt, verdeckt den Glanz der untergehenden Sonne. Der Schatten der Wolke verfinstert den Balkon; Ueli und seine Mutter stehen unversehens im Dunkeln.

Noch in der selben Woche, Freitag abends, begleitet Uelis Mutter ihren Lebenspartner, den Wachmann Hugo L., zu einer Veranstaltung im Fussballstadion. Auf dem Weg dorthin gehen sie am Restaurant vorbei, wo Ueli im Frühjahr seine Stelle als Kellner verloren hatte, weil er das Rufen der Mutter vernahm. In Erinnerung daran späht Frau Moser beim Vorbeigehen in den Wirtshausgarten. Und wieder entdeckt sie den Sohn. Er tummelt sich unter Leuten in bleichen Nachthemden und schwarzen und roten Tüchern, deren fahl geschminkte Gesichter mit dunklen Augenringen und phantastischen Perücken den Garten gespenstisch verwandeln; die verkleideten Quartierbewohner trinken unter den mit Lampions und Girlanden behangenen Bäumen an langen Tischen Wein und Bier, oder sie bewegen sich zum leidenschaftlichen Spiel eines Tangoorchesters bizarr. Ueli tanzt mit einer schwarzen Frau, deren Vampirzähne im Abenddämmer schimmern.

Frau Moser betrachtet die ungewöhnlichen Vorgänge mit zunehmender Heiterkeit; ihr Wachmann ist mürrisch gestimmt. „Verrücktes Pack!“, schimpft er, „ein neuer Wirt, ein Durchgeknallter – der alte hätte so etwas nie zugelassen!“ Gehässig drängt er Frau Moser, den Gang zum Fussballplatz fortzusetzen.

 

 

Das Produkt

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Von Felix Feigenwinter

Im Museum, wo der ewige Geschichtsstudent Michael Merz als „Mädchen für alles“ wirkt, erscheint eines Nachmittags eine mit einer Kamera ausgerüstete Fremde, die im Auftrag des Museumsdirektors das Personal für einen Museumsprospekt porträtieren soll. Weil Michael hier nur halbtags arbeitet, dies freilich schon während etlichen Jahren, fühlt er sich im Kreis der ganztags Beschäftigten immer ein wenig verloren. Dankbar erlebt er die Ankündigung des Fototermins einige Tage zuvor während einer Kaffeepause vor versammelter Belegschaft; der Museumsdirektor scheint ihn nicht auszuschliessen. Kurz vor dem Eintreffen der Fotografin bindet sich Michael eine Krawatte um, um besonders adrett auszusehen – eine für ihn atypische Anwandlung von Koketterie. Doch dann fordert ihn die Fotografin auf, zu lächeln statt düster in die Linse zu starren, wie sie sich ausdrückt, und Michael, der freundlich und erwartungsfroh geguckt zu haben glaubte, bekennt: „Ich bin schwermütig, lache selten!“

„Sie sind ein Produkt“, belehrt ihn hierauf die in einer Werbeagentur angestellte Fotografin, und Michael denkt: Jetzt wartet sie, bis ich mein Gesicht zur Grimasse verziehe. „Was bevorzugen Sie, mein Zahnpastagrinsen oder mein Valiumschmunzeln?“, ringt er sich zu einem Witzchen durch und zeigt demonstrativ seine Zähne.

Die Fotografin bittet ihn, etwas übers Museum zu erzählen, was Michael vermuten lässt, davon erhoffe sie sich eine Lockerung seiner verspannten Gesichtsmuskulatur.

„Wie Sie wünschen“, antwortet er nun ebenso trotzig wie ratlos, aber plötzlich spürt er eine Euphorie aufkommen, was seine Gedanken phantasievoll spriessen lässt, und aus dem Stegreif improvisiert er  eine Geschichte   (Bedenken, deren Inhalt würde vielleicht den guten Geschmack verletzen, den der Museumsdirektor seinem Personal im Umgang mit Museumsbesuchern und der Öffentlichkeit immer wieder anmahnt, beschleichen ihn erst im Nachhinein):

“Die Särge morbider Alltäglichkeiten barsten unter dem Einfluss hemmungsloser Ueberschwemmungen, hervorgerufen durch unerwartetes Beben“, beginnt Michael seine Rede; „es entstiegen den Fluten unbekannte Gestalten mit blicklosen Augen, kopflos zum Teil, mit rätselhaften Bewegungen scheinbar ziellos umherstreunend. Überlebende Bürger, durch rechtzeitiges Besteigen einer aus dem Wasser ragenden historischen Stadtmauer dem Ertrinkungstod entkommen, zogen die beunruhigenden fremden Wesen ins Trockene. Dann ordneten und beschrifteten sie sie mit vernünftigen Bezeichnungen. Hierauf setzten sie sie in Kondensgläser und hängten sie in Rahmen, um sie dergestalt in einem eigens dafür geschaffenen Museum der Nachwelt zu erhalten. Erst mit dem Vorbeirauschen der Jahre fiel auf, dass die fremdartigen, doch jetzt ordentlich benannten Wesen sukzessive Blicke entwickelten, die auf den Museumsbesuchern zu ruhen begannen. Als Ausstellungsobjekte verdächtigt liessen die Bürger das Museum schliessen.“

Während Michael spricht, knipst die Fotografin ununterbrochen; endlich scheint sie mit ihm zufrieden zu sein.

Nur wenige Wochen später erfährt er, dass der Aufwand vergeblich war: Erste Exemplare des neuen Prospekts werden verteilt, und Michael sucht vergeblich nach dem Foto, das ihn beim Erzählen seiner irrealen Geschichte zeigt. An der Vernissage zur Wechselausstellung, an welcher der neue Prospekt der Öffentlichkeit vorgestellt werden soll, verrät ihm die  ebenfalls eingeladene Fotografin während des Apéros im Museumsfoyer, sein  Porträt habe man auf ausdrücklichen Wunsch des Auftraggebers – also des Museumsdirektors – bei der Gestaltung des Prospekts absichtlich nicht berücksichtigt. Der gedemütigte Michael versucht, die  Enttäuschung zu verbergen und erklärt der Fotografin selbstironisch: „Weil ich nur halbtags angestellt bin, bin ich offenbar kein geeigneter Museumsrepräsentant. Also doch kein vollwertiges Produkt…“  Die Fotografin betrachtet ihn mitleidig, meint achselzuckend: „Sie sind ein  kleiner Pechvogel!“, und wendet sich einem anderen Gesprächspartner zu.

Michaels Freude ist nun endgültig verflogen. Er verspürt auch keine Lust mehr, bis zu der zu erwartenden knorrigen Ansprache des Museumsdirektors auszuharren. Noch während drei Musikerinnen ihre Instrumente für ein kleines Begrüssungskonzert stimmen, schleicht er sich aus dem Foyer, wo sich die Vernissagegäste eng drängeln,  und verzieht sich ins ihm vertraute Museumsarchiv, wo er sich am langen Tisch niederlässt, auf dem  seit Tagen vergilbte Dokumente aus dem Nachlass eines verstorbenen Donators auf Sichtung harren. Hier lauscht er den Musikklängen der drei schönen Frauen, die im Foyer ihr Konzert zelebrieren. Dabei fällt sein Blick durchs Fenster auf das Dach eines Nachbarhauses, wo auf einer Fernsehantenne zwei grosse schwarze Vögel sitzen, die ihn durch die Glassscheibe zu beobachten scheinen.

Michael hebt die Hand wie zum Gruss, steht auf und beginnt zur Musik zu tänzeln. Zärtlich, geradezu verzückt bewegt er sich durchs Museumsarchiv. Während er innehält und wieder hinaussieht, bemerkt er, wie sich die Raben flügelschlagend im Takt der Musik zu drehen beginnen. Eine Frauenstimme holt ihn aus seiner Verzauberung. „Entschuldigen Sie“, hört er, „ich habe mich verirrt. Ich suche das WC. Sie feiern ganz alleine hier… Tanz eines Unglücksraben?“ Jetzt erst sieht er die Fotografin, die mit spöttischem Grinsen im Türrahmen steht.

Michael reagiert gelassen. „Ihr schiefer Humor hat mir gerade noch gefehlt“, erwidert er trocken. Dann weist er der Frau, an deren Brust eine Leica hängt, galant lächelnd den Weg zur Toilette.

Familienausflug

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Von Felix Feigenwinter

Herr und Frau Busenhart unternehmen einen Sonntagsausflug mit ihrer einzigen Tochter Monika, die seit dem Tod ihres Kindes aus der elterlichen Wohnung ausgezogen ist. Die kleine Familie wandert nach einer stummen Kletterei über einen steilen Waldweg an weidenden Kühen vorbei über eine ungewöhnlich weite, von Sonnenlicht überflutete Hochebene, über die ein kühler Wind weht. Während einer Rast in einem Bergrestaurant entnimmt Monika ein gelbes Päcklein ihrer Ledertasche, die sie von der Mutter zu Weihnachten geschenkt bekam, und zieht daraus eine Zigarette, die sie sich zwischen die Lippen klemmt. „Muss das sein“ tadelt der sonst schweigsame Vater, „nur infantile Leute stecken sich Sargnägel in den Mund!“ – „Wisst ihr eigentlich, wie alt ich bin?“ schreit nun die Tochter. – „Zu alt, um pubertär zu reagieren“, antwortet der Vater trocken.

Auf der Heimfahrt, in einem von rucksacktragenden Wanderern überfüllten Eisenbahnwagen, erlebt die Tochter, wie der Vater einen kleinen kläffenden Hund zurechtweist, den er, mit schriller Stimme, als „unerzogen“ beschimpft. Die Dame, die das Tier an einer Leine hält, fragt er, ob sie einen Waffenschein besitze. Die Hundebesitzerin zeigt sich gekränkt; offenbar erteilt sie dem Tier nun heimlich den Befehl, in des Vaters rechte rote Wollsocke zu beißen, was diesen veranlasst, mit seinem Spazierstock gegen den Hund zu sticheln. Die Dame bezeichnet Herrn Busenhart als „ordinären Menschen“, und einige der übrigen Fahrgäste beginnen zu tuscheln.

In der Halle des Hauptbahnhofs, in den der Zug einfährt, erheben sich die Ankömmlinge mit steifen Blicken. In Einerkolonne verlassen sie den Eisenbahnwagen, in einen Menschenstrom eintauchend, der sich anarchisch durch die Bahnhofskanäle wälzt. Draußen sondert sich Monika fast wortlos von ihren Eltern ab und eilt zu ihrer Zweizimmerwohnung. Sie wird, wie oft um diese Zeit, von Störchen überholt, die entlang der Strasse wenige Meter über der elektrischen Tramleitung dem zoologischen Garten zustreben. Vor dem Haus bleibt Monika stehen und sieht einen Schwarm Krähen, der nordwärts zieht. Sie wartet und stellt sich vor, einer der schwarzen Vögel würde zu ihr herunterstürzen, um ihr eine Botschaft ins Ohr zu krächzen. Es geschieht aber nichts dergleichen; der Schwarm flattert hoch über den Dächern den Bergen zu. Endlich in der Wohnung angekommen, zieht sich Monika sogleich ins Schlafzimmer zurück, wo sie sich schnell entkleidet und erschöpft aufs Bett fällt. Das kräftige spitze Messer kommt ihr in den Sinn, das noch im ersten Besteckfach in der obersten Küchenschublade liegt. Es wäre an der Zeit, es verschwinden zu lassen; vielleicht wirft sie es morgen auf dem Weg ins Büro in den Fluss.

Sie steht an einem Dachfenster und sieht in einen Garten. Es ist Abend. Die alte Frau, die im Garten an einem Tisch sitzt, droht in der Dämmerung zu versinken. In der Ferne geistern zwischen Baumgerippen Lichtkolonnen. Die alte Frau erhebt sich, reckt den Kopf und verharrt lauschend. Auf einmal beleuchtet grelles Scheinwerferlicht den Kiesweg, die Grasmatte schimmert; Monika hört im Traum Kies knirschen. Die alte Frau zeigt mit ausgestrecktem Arm gegen den in den Garten rollenden Wagen. Auf dessen Kühlerhaube liegt ein blutverschmiertes Kind, ein schwerverletztes oder totes Mädchen, das wie eine Trophäe in den Garten geschoben wird. Monika schreit – und erwacht.

Während Wochen schlitzte Monika mit dem Messer, das sie in einem Warenhaus günstig erworben hatte, die Pneus parkierter Autos auf. Ihre triebhaften, scheinheiligen Abendspaziergänge entlang verschiedener Parkplätze hatte sie ihrem Psychiater anvertraut, und dieser warnte sie: „Damit zerstören sie sich selbst!“ Die Zeitungen berichteten von „Vandalenakten“; in Leserbriefen schworen aufgebrachte Autobesitzer Rache. Aber niemand konnte das Pneustechen verhindern, geschweige denn Monika als Täterin entlarven. Die Eltern verhalten sich ahnungslos.

Inzwischen ist sie zur  Ruhe gekommen. Sie hat die Zerstörung des Kindes gerächt. Traum und Wirklichkeit zerflossen. Nur ihr Psychiater weiß Bescheid; im Schutz seines Arztgeheimnisses wähnt sie sich geborgen.  

Besuch in einer Klinik

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Von Felix Feigenwinter

An jenem Morgen hätte Mirjam von der Klinik aus zur Arbeit gehen sollen; eine Sozialarbeiterin hatte ihr eine Halbtagsbeschäftigung im Büro eines Museums vermittelt, aber ein erneuter Ohnmachtsanfall mit schweren Herz-Kreislaufstörungen hatte sie ans Bett gefesselt. Als Mirjams Mutter das Zimmer betrat, in dem sich die Tochter seit mehreren Monaten betreuen ließ, traf sie diese schlafend. Sie zog das mitgebrachte Geschenk aus einer Plastiktüte und hängte den kornblumenblauen Rock über die Lehne eines der beiden Stühle im Zimmer. Etwas später erwachte die Patientin und verwechselte den Besuch vorerst mit einer Arztvisite; allmählich dämmerten ihr die Zusammenhänge.

„Möchtest du wieder nach Hause?“ fragte die Mutter wie beiläufig.

Ihr Zuhause sei woanders, antwortete die Tochter mit unerwartet klarer Stimme, und ihr verschleierter Blick schien durch das Fenster über eine alte Eibe zu schweifen, die am Rande des großen Gartens im Schatten eines Kastanienbaums stand.

Ob sie das blaue Kleid gesehen habe, erkundigte sich daraufhin die Mutter, und sie nannte den Ort, wo sie das Geschenk gekauft habe, und die Tochter lächelte matt.

„Du warst im Büro so tüchtig“, flüsterte die Mutter, „aber du bist empfindlich!“

Hierauf ließ sie sich zeitungslesend in einer Ecke des Zimmers am Fensterplatz nieder. Nun betrat ein jüngerer Mann das Krankenzimmer, wo unerwartet still die Besucherin im Sonnenlicht am Fenster saß. Sie berührte die entgegengestreckte Hand nur kurz.

„Freut mich“, sagte sie, doch ließ sie es nicht dabei bewenden, sondern fragte, als sich der Schnurrbärtige zum Bett zurückziehen wollte:

„Wer sind Sie?“

„Er ist der Arzt“, betonte Mirjam, „Herr Doktor Opferkuch.“

Der Mann mit dem Zwirbelschnauz bekräftigte: „Ich bin der Arzt.“

Die Tochter erwähnte, dass er eben nicht wie andere im weißen Kittel auftrete, und die Mutter schloss daraus, dieser Umstand erfülle ihn mit Stolz.

„Es mag fortschrittlich sein“, räumte sie ein, „für die Besucher ist es verwirrend.“

Der Schnurrbärtige verhielt sich so, als habe er es überhört. Er fragte die sich seitwärts aufrecht stützende Tochter, ob die Tabletten schon wirkten, wobei er, so dünkte es die Mutter, auf eine Antwort ebenso Wert zu legen schien, wie er auf sie zu verzichten wünschte. Er sei übers Wochenende abwesend, stellte er in Aussicht, statt seiner würde dann eine Frau Rebhuhn (oder ähnlich) auftreten.

Nachdem der Mann das Zimmer verlassen hatte – nicht ohne Mirjam eingeschärft zu haben, Besuche jederzeit abzulehnen, falls sie sie nicht wünsche (was die Tochter zur lebhaften, jedoch kraftlosen Beteuerung veranlasste, die dort sitze, sei ihre Mutter), trat diese ans Bett der Kranken und erwähnte, ihr Hausmitbewohner sei letzte Woche gestorben. „Er war ein enttäuschter Idealist“, betonte sie, “ ich glaube, er ist an Enttäuschung gestorben.“

„Was ist mit seiner Frau?“ versuchte Mirjam nun  zu erkunden.

„Sie spricht seit einiger Zeit nicht mehr“, antwortete die Mutter, „man hat sie ins Pflegeheim gebracht.“

Hierauf fiel die Tochter ins Kissen zurück und starrte zur Decke. Dabei veränderte sich ihr Gesicht in einer Weise, wie die Mutter es noch nie erlebt hatte.

Die Mutter verließ das Zimmer, schritt durch einen schmalen Gang in den Klinikgarten und näherte sich schreienden Vögeln und geheimnisvoll lächelnden Patienten. Wenig später bestieg sie einen Bus, der sie an eine andere Peripherie der Stadt bringen sollte.

Mit aufgerissenen Augen suchte Mirjam die Wand ab. Sie fand das Plakat, das ihr vor einiger Zeit ein Herr Mors geschenkt hatte. Mit ausgeschnittenen, aufgeklebten Buchstaben hatte Mors die Wörter „wirklICHkeit nICHts“ aneinandergereiht, eine magische Folge, die sich wie zufällig ergeben hatte, die aber – daran glaubte auch sie – wahrer schien als die Antworten, die sie während der Therapiegespräche auf die Fragen der Therapeuten zu äußern versuchte.

Mirjam kuschelte sich zur Seite und spürte, wie die Dämmerung sie zu umhüllen begann. Sie wiegte sich in den Wunsch, aus der wirlICHkeit zu erwachen, ins nICHts zu entschweben, in einen nicht gebärenden Mutterschoss, der die Auflösung beschleunigt und sanft verbirgt. Bevor sie das Bewusstsein ganz verlor, erspähte sie die dunkle Gestalt einer Katze, die täglich übers Fenstersims vor ihrem Zimmer strich. Gebannt nahm sie wahr, dass das Tier eine Amsel in der Schnauze trug. Mit letzter Konzentration versuchte sich Mirjam das allmähliche Verstummen der Vogellieder aus dem Klinkgarten vorzustellen. Indessen begannen andere Geräusche die einsetzende Stille auszufüllen: hemmungsloses Fauchen und die unverschämt deutlichen Stimmen klagender Säugetiere, schauerlich wie das nächtliche Heulen aus den Familienblöcken am Rande der Stadt.

Die Lesung

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Von Felix Feigenwinter

„Ich habe die Tendenz, zu verschwinden“, hatte er ihr gesagt, und weil er es im Zusammenhang mit seiner Ehescheidung erwähnte, fragte sie ihn, ob er Zyniker sei. „Nein“, antwortete er dezidiert, „ich leide. Ein Psychiater sagte mir: ‚Sie reiben sich an der Realität’. Damit hat er die Problematik natürlich verniedlicht. Aber das tun alle Psychiater.“

Fabian hatte sie mehrere Wochen nach ihrer Einweisung in die Psychiatrische Klinik im Patientencafé kennengelernt. Er erzählte ihr von seiner Angst, in der Wohnung im elften Stock eines Hochhauses sterben zu müssen, in die er kurz nach seiner Verehelichung eingezogen sei. Nicht vor seinem Tod an sich habe er sich gefürchtet, oh nein, der ängstige ihn nicht. Gepeinigt habe ihn die Vorstellung, sein Leichnam hätte vom elften Stockwerk zur Erde getragen werden müssen. Da er seit langem herzleidend sei und zudem an Asthma leide, habe er sich nur noch durch den Auszug aus dieser Wohnung retten können. Seine Frau habe ihm die Flucht übel genommen.

„Die Scheidung wäre vielleicht zu vermeiden gewesen, wenn Sie in eine Parterrewohnung umgezogen wären?“ erwog die Zuhörerin.

„Möglicherweise“, überlegte nun Fabian, „das Problem war doch, dass ich mir nicht vorstellen konnte, wie man mich durch das viel zu enge Treppenhaus an den kurzen Ecken vorbei hätte hinunterschaffen sollen. Und der Transport im Lift war noch unvorstellbarer. Der Lift war so eng, dass nicht einmal zwei vollschlanke Erwachsene darin unbedrängt Platz gefunden hätten, geschweige denn ein auf einer Bahre ruhender Toter. Es war für mich eine Zumutung von Würdelosigkeit, der ich mich entzog.“

„Wie hat Ihr Psychiater darauf reagiert?“ fragte die Zuhörerin.

„Der meinte kühl, Leichen aus einem Hochhaus könnten an der Fassade abgeseilt werden. Was soll’s?“ seufzte Fabian, „inzwischen habe ich mich damit abgefunden, dass Psychiater gar nicht wirklich zuhören. Trotzdem las ich ihm  eine Geschichte vor, die ich vor einigen Jahren geschrieben habe.“

Ob er denn Schriftsteller sei, wollte die Zuhörerin nun wissen.

„Nicht eigentlich“, erklärte Fabian; als junger Mensch habe er, nachdem er eine kaufmännische Lehre beendet habe, während vier Jahren in einer Speditionsfirma gearbeitet; doch das sei nicht gut gegangen. Nach einem halbjährigen Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik habe er die Matura nachgeholt, habe Philosophie zu studieren begonnen und dazwischen immer wieder als Aushilfe in einer Zeitungsredaktion gearbeitet; da habe man ihn für  Vertretungen von Militärdienst leistenden Korrektoren und Redaktoren gebraucht. Aber seit langem sei er arbeitslos, und heute lebe er von einer Invalidenrente.

Er musterte sie mit seinem traurigen Reptilienblick, und mit heiserer Stimme fragte er, ob sie die Geschichte hören wolle.

Die Zuhörerin bejahte, denn plötzlich war ihr abenteuerlich zumute.

Mit geducktem, ruckartigem Gang verschwand Fabian aus dem Café, um nach wenigen Minuten zurückzukehren, ein mit nervöser Schrift bekritzeltes Toilettenpapier in der Hand schwenkend.

Die Geschichte, die er seiner Zuhörerin vorzulesen begann, hörte sich verständlich an. Sie handelte von einer Frau, einer „unauffällig gekleideten, eher schmächtigen Besucherin unbestimmten Alters“, wie es der Autor akribisch formulierte, „die auf dem Quartierspolizeiposten erschien, wo sie vorsichtig belächelt, väterlich ermahnt und endlich, als ihr eindringlicher Redefluss dennoch nicht versiegen wollte, energisch zurechtgewiesen wurde. Eine Anzeige sei in ihrem Fall nicht möglich, erklärten die Polizeimänner im Chor“, las Fabian mit leise bebender Stimme, „die Beweislast blieb unberücksichtigt, die vorgelegten Zeitungsartikel wurden nur flüchtig beachtet; die Tonbandaufnahmen mit Reden von Weltpolitikern und Militärstrategen fanden kein Gehör. ‚Sie ist verwirrt’, entschied der Postenchef, und statt Anstalten zu treffen, die zur Verhaftung von Tätern geführt hätten, begleitete ein Polizist die Aufgebrachte in die Psychiatrische Klinik.“

An dieser Stelle sah Fabian vom Toilettenpapier auf und musterte seine Zuhörerin grüblerisch. Diese senkte den Blick, weil sie dachte, jetzt will er mir vielleicht meine eigene Geschichte erzählen, und das stimmte sie verlegen. Doch Fabian vertiefte sich erneut ins Manuskript und fuhr fort:

Dort wurde sie mit einem anmutig schmunzelnden, älteren Herrn zusammengeführt, den man ihr als ‚Doktor Friedli’ vorstellte, und diesen versuchte sie von der Berechtigung ihrer Anklage zu überzeugen. ‚Sie haben vollkommen recht’, meinte Doktor Friedli, indem er seinen leicht schiefen Krawattenknopf gelassen zurechtdrückte, ‚die Leute, die uns mit Massenvernichtungswaffen bedrohen, sind eigentlich Kriminelle.’ – ‚Aber sagen Sie doch’, insistierte die Frau, ‚wo finden wir die Richter, die den Mördern das Handwerk legen?’ Doktor Friedli rieb sich die Hände, schaukelte den Kopf und diagnostizierte versonnen: ‚Sie reiben sich an der Realität, gute Frau; ich kann Ihnen nur empfehlen, dem Zivilschutz beizutreten.’ Die Frau bedankte sich und verließ die Klinik. Zuhause meldete sie sich bei der örtlichen Zivilschutzorganisation, und ihr gestörtes Verhältnis zur Wirklichkeit begann sich zu klären. Bereits im Einführungskurs, wohin sie nach einigen Monaten einzurücken hatte, hörte sie, die Pulverisierung von Menschen sei auch in Schutzanzügen und Zivilschutzkellern möglich im Falle eines Nuklearangriffs, auf den es sich vorzubereiten gelte. Der Kursinstruktor, ein flotter jüngerer Mensch, beruhigte indes, es gäbe auch durchaus friedliche Störfälle, auf  die  einzustellen sich lohne. Hierauf ergriff der Instruktor eine Schutzmaske und stülpte sie sich übers Gesicht; alsdann forderte er die Kursteilnehmer auf, es ihm gleichzutun.“

Fabian legte das Toilettenpapier auf das Kunststofftischchen und schnappte nach dem letzten Schluck Kaffee.

„Ist die Geschichte zu Ende?“ fragte die Zuhörerin unsicher.

„Nein“, sagte Fabian, „wollen Sie den Schluss auch hören?“

„Ein Happy-End?”

“Das wäre wohl Kitsch”, meinte Fabian, und er sah wieder auf das zerknitterte Toilettenpapier und las:

„Schon kurze Zeit danach erreichte die Frau das Aufgebot zu einem Weiterbildungskurs. Es war ein bewegter Samstagmorgen. Die Frau saß in der Küche ihrer Mietwohnung im elften Stock eines Hochhauses am Stadtrand. Soeben hatte eine Stimme am Radio die Zehn-Uhr-Nachrichten verlesen. Die Frau las das Aufgebot wie abwesend; dann faltete sie das Papier zu einem Spielzeugflugzeug und trat damit auf den Balkon, wo sie es dem Wind überließ. Inmitten von wild aufgewirbelten Baumblättern schoss es in die Weite. Es verstrichen nur wenige Sekunden, bis die Frau aufs Balkongeländer kletterte. Unbeachtet von den in ihre Wohnungen verkrochenen Nachbarn fiel sie in die Tiefe. Sie stürzte schnell und leicht, und ihr Rock flatterte wie eine Fahne im Wind. Doch nun hob ein Sturm an. Blumentöpfe zerbrachen, und vielerorts klirrte Glas.“

Sichtlich erschöpft von der Anstrengung des Vorlesens versorgte Fabian das Toilettenpapier in seiner Kitteltasche, und danach erhob er sich, zitternd wie ein Greis, und verließ das Café ohne hörbaren Gruß.

Intervention eines Erleuchteten

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Von Felix Feigenwinter

Um zu seiner Psychotherapeutin zu gelangen, musste Sebastian den Fluss überqueren, der die Stadt in zwei Teile trennt. Die Psychiaterin, eine feine Person, mit der er kultivierte Gespräche führte, wohnte zwar im Stadtteil, wo auch Sebastian domiziliert war, doch hatte sie vor einiger Zeit die Praxis eines Kollegen übernommen, der Opfer eines Verkehrunfalls geworden war. Ein Auto hatte den Velo fahrenden Arzt, der zur Arbeit radelte, gerammt und auf die Strasse geschleudert. Dabei verletzte sich der Psychiater (der keinen Sturzhelm trug) so schwer am Kopf, dass er das Unglück nicht überlebte.

Während der Fahrt über die Brücke erlebte Sebastian Seltsames: Als er aus dem Tramfenster auf den breiten Fluss hinaussah, erspähte er in der Ferne des nordwestlichen Horizonts die strahlende Morgensonne. Das war sehr wundersam, denn es war wie gesagt Morgen,  viertel vor zehn, wie Sebastian mit Blick auf seine Armbanduhr feststellte, und er nahm selbstverständlich an, dass die Sonne auch heute im Osten aufgestiegen sei; warum also erschien sie, so früh am Tag, bereits in der entgegengesetzten Himmelsrichtung, zudem über dem Hochkamin der städtischen Kehrichtverbrennung, wohin sie sich noch nie verirrt hatte, übrigens auch abends nie, wenn sie sich, weiter im Westen, den Blicken zu entziehen begann? Irritiert wandte sich Sebastian von der rätselhaften Erscheinung  ab und spähte in die andere Richtung aus dem Nachbarfenster flussaufwärts, und siehe da: Auch hier stand der Feuerball am heiterblauen Himmel, am südöstlichen Horizont! Allmählich begriff Sebastian, dass er eine Täuschung erlebte: Die Morgensonne schien durchs südöstliche Fenster und spiegelte sich in der nordwestlichen Glasscheibe, die den Blick auf den Hochkamin der Kehrichtverbrennungsanstalt freigab, so dass der Fahrgast den Eindruck erhielt, er würde gleichzeitig von zwei Sonnen bestrahlt. Diese  Erklärung befriedigte Sebastian  intellektuell, beruhigte seine Vernunft, aber er stellte  fest, dass seine Gefühle von der Ernüchterung unberührt blieben: Das Erlebnis, von zwei Sonnen gleichzeitig beschienen worden zu sein, erfüllte ihn mit einer Wärme und Stärke, wie er sie in seinem bisherigen Leben  noch nie gespürt zu haben glaubte.

Als er zehn Minuten später vor dem Haus stand, wo die Psychotherapeutin praktizierte,   war er zuversichtlich, dass er sich dieser Dame, deren einfühlsame, warmherzige Art er so sehr schätzte und für die er dankbaren Respekt empfand,  sich heute besonders würdig erweisen könnte, denn er empfand zum erstenmal, seit er sie regelmässig besuchte,  jene Ausgeglichenheit und Ruhe, die er sich immer gewünscht hatte, um der liebevollen Zuwendung seiner Therapeutin zu entsprechen. Zwar hatte er sich stets bemüht, die Ärztin, die seine Seelenschmerzen so wohltuend zu lindern verstand durch ihr aufmerksames Zuhören, ja durch ihre blosse Anwesenheit, vor Einblicken in die düsteren Abgründe seiner Seele zu verschonen; stets war er  besorgt, den netten Gesprächsstil aufrechtzuerhalten, und er vermied es, die höflichen Umgangsformen und die angenehme Atmosphäre  durch finstere Andeutungen oder gar Ausbrüche der Verzweiflung zu zerstören. Heute nun, so schien ihm, würde ihm das leicht gelingen, denn er fühlte sich sonderbar erleuchtet.

Wie immer bei seinen Besuchen öffnete die Psychiaterin die Haustür, indem sie den automatischen Türöffner mit Druckknopf von der Praxis aus betätigte, nachdem Sebastian draussen geläutet hatte, und sie blieb vorerst auch unsichtbar, nachdem er ihr Reich im zweiten Stockwerk durch die offene Praxistür betreten hatte. Nun wusste er, dass er sich ins Wartezimmer zurückzuziehen hatte, da ein  anderer Patient die Therapeutin noch davon abhielt, sich dem Neuankömmling schon widmen zu können. Die Tür des Warteraums stand wie immer weit offen, was normalerweise keine Beeinträchtigung der Diskretion bedeutete, da sich zwischen diesem Zimmer und dem Therapieraum noch eine Bürokammer befand, wo die Ärztin ihre administrativen Arbeiten erledigte, und ausserdem die Toilette, die Sebastian bisher nie benützt hatte.

Heute aber drang eine laute, unheimlich zornige Männerstimme aus dem Sprechzimmer. Sebastian hörte, wie dieser erregte Kranke die Frau Doktor mit ungehemmter verbaler Gewalt attackierte, sie als „verdammte Hure“ beschimpfte und ihr drohte, sie umzubringen. Warum, fragte sich Sebastian mit wachsendem Entsetzen, empfing sie solche aggressive Grobiane, da sie sich doch ohne Arztgehilfen, der den Leibwächter hätte spielen können, ungeschützt in ihrer Praxis aufhielt? Da sich der Unbekannte keineswegs zu beruhigen schien, sondern seine Drohungen mit anschwellendem Geschrei wiederholte, entschloss sich Sebastian, der Therapeutin zu Hilfe zu eilen. Mit einer Entschlossenheit, die ihn nachträglich selber verwunderte, stürmte er aus dem Wartezimmer zur Sprechzimmertür, hinter der die unerträglichen Verbalattacken des tobenden Patienten unvermindert anhielten, und er klopfte energisch an die Tür. Der Wüterich verstummte, und da Sebastian von der Ärztin keinen Laut vernahm, was ihn zu den schlimmsten Befürchtungen veranlasste, riss er die Türe auf. Die Ärztin sass hilflos in ihrem Therapeutensessel, derweil der Tobian, ein grobgliederiger, knochiger, bärtiger Riese, mitten im Raum stand, mit langen Armen herumfuchtelte und seine grossen, robusten Hände schliesslich zu einem Würgegriff formte, als ob er auf die Verängstigte sogleich wie ein wildes Tier  losspringen wolle. Sebastian stellte sich dazwischen. „Halt!“ herrschte er den Unzurechnungsfähigen an, „schämen Sie sich nicht!? Diese Dame will Ihnen helfen, aber Sie beschimpfen und bedrohen sie! Pfui! Ihr Verhalten ist unwürdig und unehrenhaft! Als Herkules sind Sie verpflichtet, die Dame zu beschützen!“

Sebastians Intervention ermöglichte der Therapeutin, in den Nebenraum zu flüchten und Alarm zu schlagen. Nachdem zuerst zwei uniformierte Polizisten die Praxis betreten hatten und etwas später die Ambulanz eingetroffen war (im Gegensatz zum feingliederigen Sebastian, der sich als Bodyguard schlecht eignete, ebenfalls zwei kräftige Männer),  wurde der wilde Mann wegtransportiert. Im Bestreben, seiner Therapeutin nach der überstandenen Aufregung nun etwas Ruhe und Erholung  zu gönnen, und weil er vermutete, die Zeit seiner Therapiestunde sei inzwischen abgelaufen, verabschiedete sich Sebastian, ohne von seinem Erlebnis auf der Brücke mit den zwei Sonnen erzählt zu haben, was er sich eigentlich vorgenommen hatte.

Erst als er, ein heiteres Liedchen vor sich hinpfeifend, durch das Spätmorgenlicht zur Tramhaltestelle schlenderte, fiel ihm ein, dass er vergessen hatte, sich einen Termin für die nächste Sprechstunde geben zu lassen. Und er fragte  sich, ob ihm die Ärztin für seinen heutigen Besuch  auch eine Rechnung schicken würde, obwohl sie mit ihm gar kein Therapiegespräch geführt hatte. Aber das würde sich klären. „Kommt Zeit, kommt Rat“, sagte er  vor sich hin, als er das Tram bestieg, momentan  zufrieden mit sich selbst und der Welt und glücklich darüber, dass er der verehrten Dame einen Dienst hatte erweisen dürfen.

Evas Ausflüge

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Von Felix Feigenwinter

Eva Meier sass auf einem Bänklein des örtlichen Verkehrsvereins und blickte über eine ungemähte wogende Wiese – ein von Hitze und Wind zerpflügtes weites Pflanzenfeld, dessen Grün mit gelben, lila und blutroten Blüten durchsetzt war. Auf den Gräsern, die im Wind tanzten, glänzte der Schein der hohen Sonne; der See im Hintergrund war ein glitzernder hellblauer Spiegel, an dessen Rändern Nadelbäume violette Schatten warfen. Ringsum strotzten in milden Dunst gehüllte Bergriesen; auf den höchsten Gipfeln schimmerte es schneeweiss.

Das Bild war Eva vertraut. Jeden Sommer, in den Juliwochen, aber auch während der winterlichen Hauptsaison, tritt sie in der eleganten Bar des grossen Hotels auf, das sich wie eine feudale Festung über dem Feriendorf erhebt. Dort greift sie in die Tasten (es ist für sie Ehrensache, mit nie erlahmender Begeisterung sorgfältig, aber auch brillant und immerzu kreativ zu spielen, nicht einfach zu klimpern wie so viele ihrer routinierten und resignierten Berufskollegen, die als Barpianisten keinen künstlerischen Ehrgeiz mehr zu entwickeln schienen), und manchmal, wenn ihr das Publikum dafür empfänglich scheint, begleitet sie ihre Klaviermusik mit leidenschaftlichem Gesang. Eva Meier tritt als Eva Schmetterling auf, ein Künstlername, der ihr im Traum zugefallen war, als sie noch nicht als Barpianistin durchs Land zog, sondern als Studentin Ambitionen als Konzertpianistin hatte.

Während Eva nun ihre Nachmittagspause da draussen auf einem Bänklein verbrachte und das ihr vertraute Bild der Berglandschaft in sich einsog, begann ihre musikschwangere Seele zu jauchzen und hinauszuschwirren in die leichte, reine Alpenluft; rhythmisch und melodisch flatterte sie über die Wiese von Blüte zu Blüte, und es erstaunte sie, dass sie weit und breit der einzige Sommervogel war.

Als sie dann am Abend den Hotelraum betrat, wo der Flügel stand, ein fast protzig grosses Instrument mit glänzender Oberfläche, und wo sich die Bar und die Clubsessel befanden, von wo aus die Besucher Evas Improvisationen  entspannt folgen konnten, war erst ein einziger Gast anwesend. Dieser Frühankömmling, ein älterer Herr, sass an der Bar vor einer Spirituose; ein eigentlich unscheinbarer, graumelierter, schmaler Mann, der nun mit  feingliederigen Fingern das Glas ergriff, um das Getränk vorsichtig zu schwenken; dabei musterte er Eva durch beschlagene Brillengläser und erwiderte ihren Gruss mit einem undeutlichen Kopfnicken. Eva setzte sich an den glänzenden Flügel und begann mit ihrem Abendprogramm. Allmählich füllte sich der Raum mit verschiedenen Leuten, Hotelgästen aus aller Welt, aber auch einheimischen Dorfbewohnern und einigen Menschen aus den umliegenden Ferienwohnungen. Es war Freitag, und der Andrang war dichter als an gewöhnlichen Abenden (Eva bevorzugte die stilleren, beschaulicheren  Stunden); im Hotel tagte ein akademischer Kongress, und später belagerte auch eine Gruppe von übermütigen jungen Leuten Evas Piano, Teilnehmer eines Weiterbildungskurses, der im Ferienort stattfand. Die jungen Gäste äusserten Musikwünsche, verlangten Stücke, die nicht alle zu Evas Repertoire gehörten, und ein betagter Rentner, ein reicher Witwer,  wie Eva vermutete, überhäufte sie mit Komplimenten, spendete ihr teure Getränke und konfrontierte sie gar mit einem vielleicht ernst gemeinten Heiratsantrag, den sie charmant zurückwies. Kurz darauf erlitt dieser Greis einen Schlaganfall und musste von einer Ambulanz wegtransportiert werden. (Am Abend danach erfuhr Eva vom Hotelarzt, dass der Kavalier noch in der gleichen Nacht verstorben sei.)

Die von den Gästen verursachten Geräusche, das Stimmengewirr, viel Gelächter, auch das Klirren und Klappern von Gläsern, Essgeschirr  und Besteck, übertönten bisweilen  Evas Musik und Gesang. In all dem Trubel verlor sie den ersten Gast des Abends, den schmalen, bebrillten älteren Herrn mit seinem Spirituosenglas, keineswegs aus ihrem Blick. Zwar hätte sie nicht beurteilen können, welche und wie viele Getränke dieser Einzelgänger im Verlauf des langen Abends bestellt und geschlürft haben mochte, doch je länger sie ihn von ihrem Klaviersessel aus beobachtete, desto  sicherer war sie, dass sie ihm vor vielen Jahren als Studentin schon einmal begegnet war, ihn bewundert, sogar verehrt hatte.

Eva erinnerte sich an einen eifrigen jungen Mann mit Künstlermähne, mit dem sie damals das Kunstmuseum ihrer Heimatstadt durchwandert hatte, wo er sie mit gescheiten kunsthistorischen Erklärungen beeindruckte. In jener Zeit arbeitete er an einem Text, den sie für ihn ins Reine tippte, aus Idealismus, aus Begeisterung, aus Respekt vor dem jungen Mann mit der Künstlermähne, und aus Ergriffenheit über die Bilder einer hochbegabten Malerin, einer ihr bisher unbekannten einheimischen Künstlerin, deren Werke Peter Schällimatt, so hiess der junge Kunsthistoriker, in einer Galerie entdeckt hatte und nun mit scharfsinnigen Ueberlegungen analysierte. Eva hatte sich für die Malerin interessiert, wollte sie persönlich kennenlernen, was sie  Schällimatt anvertraute, sie  bat ihn um Vermittlung; der war der Künstlerin an einer Vernissage persönlich begegnet, hatte sie später in ihrem Atelier besucht, wie er Eva erzählte, um möglichst viele ihrer Gemälde  für seinen Text zu inspizieren. Schällimatt reagierte auf Evas Anliegen unerwartet arrogant und autoritär: die Person und das Leben eines Künstlers seien unwichtig, belehrte er sie schroff, die Biografie lenke vom Wesentlichen ab – von der Kunst, um die es letztlich gehe; er sehe nicht ein, warum sie  diese Malerin persönlich kennenlernen wolle, das sei unnötig. Eva war zutiefst enttäuscht und verletzt; ihre Beziehung zu Schällimatt war unrettbar zerbrochen. Schällimatt schien dies nicht zu stören;  er suchte keine Verständigung, kümmerte sich nicht mehr um Eva, verfolgte unbeeinträchtigt seine ehrgeizigen Ziele.

Der ältliche Herr, der einen Abend lang an der Bar sass und Evas Klavierspiel und Gesang zu lauschen schien, war Peter Schällimatt, davon war Eva mittlerweile überzeugt, obwohl das einst Charakteristische an seiner äusseren Erscheinung, die verwegene Künstlermähne, weggeschnitten war; der Mann sah nun banaler aus, fand sie; sein Kopf schien geschrumpft; aber die Gesichtszüge waren ihr vertraut.

Während einer Pause begab sich Eva zur Bar und sprach den zwischen übermütig plaudernden  jüngeren Gästen  in sich versunken dasitzenden Einzelgänger an. „Sind Sie nicht Herr Schällimatt?“, fragte sie vorsichtig. – „Der bin ich“, bestätigte der Gast. – „Dann kennen wir uns“, erwiderte Eva, „vor vielen Jahren habe ich Dir einen Text ins Reine getippt, eine Arbeit über die Bilder einer jungen, vielversprechenden  Malerin.“

„Ach, wie spassig!“, bemerkte Schällimatt, der sich nun aufreckte, „das ist lange her! Eva Meier?!“ – „Ja, immer noch. Hier trete ich als Eva Schmetterling auf, mein Pseudonym.“

Schällimatt nickte. Eva erinnerte ihn daran, wie er sich damals geweigert hatte, sie mit der Malerin  in Kontakt zu bringen – weil angeblich die Person und das Leben der Künstlerin nicht wichtig seien, von der Kunst nur ablenkten. Schällimatt stutzte und meinte trocken: „Diese  Malerin ist übrigens gestorben. Sie hat sich das Leben genommen. Ich habe es erst kürzlich erfahren, weil man mich anfragte, ob ich an einer Gedenkausstellung reden könne. Ich musste absagen.“ – „Ist das alles, was Dir dazu einfällt?“, fragte Eva, bevor sie sich zurückzog, um ihre Arbeit am Flügel fortzusetzen – aufgewühlt, traurig, empört.

Am nächsten Tag entdeckte sie im Foyer des Hotels ein Plakat. Mit wachsender Verblüffung las sie:

Votrag von Professor Peter Schällimatt.

Nationalsozialistisches Kunstverständnis hinsichtlich der Biografie von Adolf Hitler und dessen  Scheitern  als Kunstmaler.

Professor Schällimatt signiert sein soeben erschienenes neues  Buch zu diesem spektakulären Thema.

Eva überlegte: Wie war Schällimatts Interesse für das Leben von  Adolf Hitler zu erklären, für dessen Scheitern als Kunstmaler – angesichts seiner Ignoranz gegenüber dem Schicksal einer Malerin, deren Bilder er einst analysierte, unabhängig von der Künstlerin und deren Biografie, die er missachtete? War es ganz banal die Aussicht auf hohe Auflagezahlen für ein Buch über eine  weltbekannte historische Schreckensgestalt? Dagegen bot die tragische Nischenexistenz einer Malerin, deren Bilder ihm willkommenes Material für eine  kleine kunstwissenschaftliche Textübung lieferten,  keine Garantie für eine erfolgreiche Vermarktung und Förderung seiner Reputation als etablierter Publizist.

Gegen Abend jenes Tages setzte  sich Eva wieder auf die Bank des örtlichen Verkehrsvereins mit Blick auf die Sommerwiese und den See im Hintergrund. Während sie sinnierte, näherten sich ihr auf dem schmalen Spazierweg, der an der Bank vorbeiführte, Peter Schällimatt und eine Dame, wohl die Gattin des Professors, die diesem vielleicht nachgereist war, um dessen Vortrag über das nationalsozialistische Kunstverständnis beizuwohnen. Noch bevor das  Paar die Bank erreichte, startete Eva zu einem Ausflug über die Wiese.

Den Vortrag besuchte sie nicht.

Ein Schweizer am Meer

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Von Felix Feigenwinter

“Ich bin ein verunsicherter Schweizer. Meine Verunsicherung hat persönliche, keine politischen Gründe“, bemerkt ein in einem Eisenbahnzug nach Holland Reisender zu einer Dame, die sich in Köln auf einem reservierten Platz neben ihm niedergelassen hat und ihn in ein Gespräch verwickelt.

„Sind Sie vielleicht geschieden?“ forscht die Dame.

„Nein, ich bin Witwer“ antwortet der Mann; „aber ich leide unter Atemnot, sobald ich die Höhe von zirka 1800 Metern über Meer übersteige. Wie kann einer ein senkrechter Eidgenosse sein, wenn er sich schon nach zwei, drei Tagen Aufenthalts in den Bergen von einem Sauerstoffkollaps bedroht fühlt? Ist einer ein hundertprozentiger Schweizer, wenn es ihm elend und schwindlig wird, er wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft zu schnappen beginnt, sobald er die hehre Alpenwelt betritt? Ein solcher Mensch sitzt neben Ihnen; ich bin ein Mann, der das Leben im Gebirge schlecht verträgt! Zum Glück wohne ich in der Tiefe, unten in Basel, am Dreiländereck am Rheinknie.“

„Und jetzt reisen Sie in die Sommerfrische?“ vermutet die Frau.

„Ich fahre zum Meer hinunter, zur Nordsee, wo ich meine Ferien verbringen möchte.“

„Können Sie wenigstens jodeln?“ fragt nun die Reisebekanntschaft und lacht; Humor scheint ihr nicht fremd zu sein.

„Nein“ bekennt der Eidgenosse, „ich blase auch kein Alphorn.“

Abends sieht er die Frau wieder, und er wundert sich, dass sie sich ebenfalls an diesem Ferienort aufhält, wo er in einem Dreisternhotel logiert, denn vor dem Umsteigen im Amsterdamer Bahnhof hatte er sich von ihr verabschiedet in der Meinung, er würde ihr nie mehr begegnen. Nun vereinbaren sie in ihrer Ueberraschung, gemeinsam zu essen. Sie setzen sich draussen vor ein kleines Spezialitätenrestaurant, bestellen Fisch und Bier. Die Deutsche erklärt, sie spüre eine furchtbare Deutschenfeindlichkeit vieler Holländer, was Jahrzehnte nach dem Kriegsende doch kaum mehr verständlich sei. Später stösst der inzwischen vielleicht schon ein wenig betrunkene Schweizer sein Bierglas derart heftig an jenes der Deutschen, dass das Glas der Dame in Brüche geht.

Am nächsten Tag – es ist nun später Morgen, das üppige Frühstück im Dreisternhotel hat er massvoll genossen – sitzt der Schweizer, der auch Schweizer heisst, Köbi Schweizer, keine fünfzig Meter über Meer in einem Buchenwäldchen allein auf einer grünen Bank und staunt auf ein offenbar stilles braunes Gewässer, das sich bei günstigem Lichteinfall in einen glasklaren Spiegel verwandelt, wo sich die Baumkronen unter dem hellen Himmelblau erstaunlich deutlich spiegeln. Dass das stille, dunkle, von Zeit zu Zeit heiter aufleuchtende Gewässer nicht tot ist, wie es zuerst den Anschein erweckte, beweisen dem Feriengast ein Schwarm kleiner, dunkler Fische – sie erinnern ihn an Kaulquappen, so winzig sind sie – , die knapp unter der Wasseroberfläche herumtanzen. Die Spiele des Lichts und der von Zeit zu Zeit durchs Buchenwäldchen huschende Wind sorgen für die Belebung des nicht fliessenden Kanals.

Herr Schweizer erhebt sich von der grünen Bank, schwingt sich aufs gemietete Fahrrad, das er auf den sandigen Waldboden gestellt hatte, und fährt aus dem Buchenwäldchen, in dem auch einige wenige knorrige Eichen stehen. Ein Radfahrerweg führt entlang einer Autostrasse durch die von Nadelholz gesäumten Dünen hinunter zum Meer.

Den ganzen Nachmittag verbringt der Mann nun am Strand, wo er in einem Strandkorb döst, ein wenig dem Meer entlang spaziert, sich später auf ein mitgenommenes Badetuch legt, die weissen, meergrauen und sandbraunen kleinen und grossen Möven beobachtet, die durch den Sand stelzen und wie Hühner nach Futter picken, und schliesslich in einem der Strandpavillons mit Zwiebeln und Gurkenscheiben garnierte Matjiesheringe isst. Gegen Abend wandert er barfuss dem Meer entlang, den unaufhörlichen Rhythmus des Wellenrauschens im Ohr; den Wind, der die brühende Sonnenhitze zerpflügt, empfindet Herr Schweizer als zärtliche Liebkosung auf seiner Haut. Irgendwann kehrt er um, um seine Sachen im Strandkorb und das in der Nähe des Meers abgestellte Mietvelo sicherzustellen; staunend erlebt er, wie der glitzernde und funkelnde Schleier, den das Sonnenlicht übers Meer geworfen hatte, zu einem schmalen, leuchtenden Teppich zusammengezogen wird, der sich bald zu einer flimmernden Sonnentreppe verwandelt, die schliesslich ganz verschwindet. Die Sonne errötet zusehends, wird zu einem orangenen Lampion; dann beginnt sie, am Horizont zu versinken. Der Himmel verfärbt sich rosa und lila, dunkelt ein, die am Strand sich tummelnden Menschen, Hunde und Pferde erscheinen als scharfe, dunkle Silhouetten vor dem schon matter leuchtenden, aber immer noch hellen Meer – Schattenrisse, die ein uraltes Naturschauspiel feiern. Am Himmel übernimmt der vorher fast unscheinbare, weil blasse Mond die Ablösung: er beginnt sich zu verfärben, erregt mit warmem Gelb neue Aufmerksamkeit. Die Flut hat die Ebbe abgelöst.

Am darauffolgenden Tag schreibt Herr Schweizer nach dem Frühstück im Hotel seinen zu Hause gebliebenen Arbeitskolleginnen und –kollegen. Er notiert auf die Rückseite einer Ansichtskarte, auf der ein etwas kitschig aussehender Sonnenuntergang am Meer abgebildet ist: „Der Aufenthalt am Meer ist für mich ein wahres Antidepressivum. Ich hoffe, es reicht für mich aus, das Büroleben in der Schweiz für ein weiteres Jahr durchzustehen.“

Anschliessend unternimmt er eine lange Velofahrt in eine entfernt liegende Stadt, wo er ein Museum besucht; erst nach Einbruch der Dunkelheit kehrt er in seinen Ferienort zum Hotel zurück. Frohen Sinnes denkt er, über genügend Ferientage zu verfügen, um den Sonnenuntergang am Meer noch mehrere Male zu erleben.

Doch am nächsten Morgen ist der Himmel bedeckt; ein diesiger Nebel hängt über dem Strand, zu dem Herr Schweizer gleich nach dem Frühstück radelt. Es ist kühl geworden. Trotzdem bleibt er am Meer, watet stundenlang durch den Sand, hofft, die Sonne würde sich im Verlauf des Nachmittags doch noch zeigen. Statt dessen hebt ein Sturm an, der, je näher der Abend kommt, heftiger wird und zu einem Orkan anschwillt. Herr Schweizer rettet sich zitternd vor Nässe und Kälte in einen gedeckten Strandpavillon, von wo aus er das Unwetter verfolgt, entsetzt aufs tobende Meer starrt, dessen Sanftheit von vorgestern für alle Zeiten weggepustet scheint. Er bestellt eine Hühnersuppe, um Seele und Körper aufzuwärmen. Als ihm die flachsblonde Serviererin die dampfende Schale auf den Tisch stellt, seufzt er: „Ein Trost bei diesem grausigen Wetter!“ Die Holländerin lacht, aber hinter seinem Rücken antwortet die kräftige Stimme einer anderen Frau: „Sie befinden sich hier nicht am lieblichen Rheinknie, Herr Schweizer. Sie erleben den wahren Charakter unserer Nordsee!“ Der Schweizer denkt: das Basler Rheinknie ist nicht lieblich; es ist ruhig, kultiviert, ordentlich strukturiert, das wohl; der Strom ist gezähmt. Er wendet sich um und sieht am Tisch hinter sich eine Frau sitzen, die – halluziniert er? – ein zerbrochenes Bierglas in der rechten Hand hält und ihn ebenso vorwurfsvoll wie spöttisch zu mustern scheint. Er weicht der Herausforderung aus, wendet sich wieder seiner Suppe zu, die er hastig auslöffelt. Hierauf eilt er zur Theke und bittet die Holländerin, ein Taxi zu bestellen, das ihn und sein gemietetes Fahrrad zum Hotel zurückfahren soll.

Tags darauf – der schreckliche Sturm hat sich gelegt, aber am Himmel türmen sich düstere Wolken, und der Wind pfeift vom Meer her warnend übers platte Land – reist der Schweizer früher als geplant in sein geordnetes Binnenland zurück.