Blockzeit

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Von Felix Feigenwinter

Fred sass hinter dem Personalcomputer und betrachtete durchs Fenster die Dächer der gegenüberliegenden Häuser. Sein Staunen galt dem Phänomen, dass Schnee nur noch das Dach eines einzigen Hauses bedeckte, bis ihm einfiel, dass dort die Fensterläden seit Monaten geschlossen waren. Das Haus schien seit langem unbewohnt, und das war wohl der Grund, warum der Winter das Giebeldach noch immer belagerte; offensichtlich war nie mehr geheizt worden, keine Wärme unter dem Dach trieb die Schneeschmelze an.

Christs Anwesenheit nahm er erst später wahr, als er ein Räuspern vernahm, das ihn erschreckte und seine Beschaulichkeit zerstörte. Er fragte sich, wann Christ das Büro betreten habe. Vergeblich versuchte er sich zu erinnern, das Geräusch der sich öffnenden Tür bemerkt zu haben. So vermutete er, der Abteilungsleiter sei vor etwa zehn Minuten ins Büro gekommen, als Frau Erhart zur viertelstündigen Morgenpause aufgebrochen war; dann hätte ihn Christ während Minuten heimlich beobachtet, wortlos hinter ihm stehend. Fred wagte nicht, sich vorzustellen, wie er sich während dieser Zeitspanne verhalten habe. Meistens riss er, nachdem die durchzugsgefährdete Frau Erhart in Richtung Aufenthaltsraum im Korridor verschwunden war, das Fenster auf, und er zündete eine Zigarette an, deren Rauch er gierig einsog, ruhelos im Büro hin- und herwandernd, wie ein gefangenes Tier. Die Gier, die ihn in Abwesenheit der Nichtraucherin Frau Erhart täglich erfasste, war unbändig. Heute hatte er nicht geraucht, weil er am frühen Morgen, auf dem Weg zum Verwaltungsgebäude, vergessen hatte, Zigaretten zu kaufen. Anders als sonst war er am Pult sitzengeblieben, sonst wäre ihm Christs Anwesenheit aufgefallen. Ein Fensterflügel stand freilich offen; den herbeiströmenden Wind hatte er wie ein erfrischendes Bad genossen; der Schein der Frühlingssonne glitzerte, und vom Dach des unbewohnten Nachbarhauses tropfte Schneewasser in die Pflanzenrabatten, wo Amseln die Erde bepickten.

„Haben Sie um elf Uhr Zeit?“ fragte Christs Stimme. Sie tönte wie üblich gesiebt, von emotionellen Spuren vollständig gereinigt, wirkte gleichförmig, unbewegt. Fred bejahte; Christs Erkundigung konnte nur rhetorisch gemeint sein, war somit hämisch. Aber die Schadenfreude, die ihr zugrunde lag, war nicht zu denunzieren – oder hätte Fred erwähnen sollen, elf Uhr sei innerhalb der Blockzeit; er müsse heute morgen weder zum Arzt noch zu einer Beerdigung eines nahen Verwandten (andere Verrichtungen ausserhalb des Verwaltungsdgebäudes waren für ihn während der Blockzeit nicht vorgesehen; Dienstreisen, wie Kaderleute ihre Ausflüge während der Blockzeiten deklarierten, blieben für gewöhnliche Angestellte unerreichbar; diese hatten hinter ihren Personalcomputern zu verharren, seit der Einführung der Zweiundvierzigstundenwoche mit einem Unterbruch von zweimal fünfzehn Pausenminuten während täglich achteinhalb Stunden, inbegriffen die Kompensationszeit für verlängerte Wochenenden an Ostern und Pfingsten). Fred antwortete kurz, korrekt, mit einem Beben in der Stimme; seine Empörung über Christs bewusste oder unbewusste Perfidie versuchte er wie alle Empfindungen persönlicher Art zu verbergen, und er nickte scheinbar beflissen, nachdem Christ erklärt hatte: „Man erwartet Sie zu einer Besprechung im kleinen Sitzungszimmer“. Vielleicht hätte Christs Gesichtsausdruck nähere Hinweise gegeben, ein maliziöses Lächeln etwa, oder eine forciert starre Maske, aus deren Oeffnungen die Bosheit zuckte. Aber Fred sah immer noch durchs Fenster, bemerkte zwei Männer in blauen Uebergewändern und mit roten Hüten, die ein angerostetes Metallrohr über die Pflanzenrabatten schleppten, und er erinnerte sich an eine interne Mitteilung der Geschäftsleitung, wonach „schneller als erwartet mit den Installationen für Probebohrungen im Hinblick auf den Neubau begonnen“ werde; es sei vorgesehen, an drei bis vier Stellen hinter dem Verwaltungsgebäude Bohrlöcher für Bodensondierungen zu erstellen. Leider sei mit Lärmimmissionen und zeitweise mit Einschränkungen der Parkierungsmöglichkeiten zu rechnen; man erwarte selbstverständlich, dass der Arbeitseinsatz dadurch nicht beeinträchtigt würde. Als sich Fred endlich umsah, hatte der Abteilungsleiter in seinem Rücken das Büro bereits verlassen; Fred schloss den Fensterflügel und setzte sich auf den Sessel zurück.

Kurz, nachdem Frau Erhart von der Pause zurückgekehrt war, durchdrang ein metallenes Klopfen das Schweigen im Büro, verdeckte das Klappern der Computertasten. Die Korrektheit der Kollegin verband sich nahtlos mit der Leidenschaftslosigkeit, welche die Büroräume durchspannte, sicherte den vorgeschriebenen Umgang zwischen den angestellten Menschen, die austauschbar schienen. Der Lärm der Sondierungsbohrung vermochte Frau Erharts Verhalten auch nicht zu ändern, und nach einer Weile sah Fred auf die Uhr und sagte, um elf Uhr müsse er zu einer Besprechung im kleinen Sitzungszimmer, und er erhob sich und schickte sich an, das Büro zu verlassen; dabei streifte sein Blick Frau Erhart, in deren Gesicht er geduckte Abwehr las, ja Zeichen nur mühsam unterdrückter Angst.

Als er das Sitzungszimmer erreichte, fand er es menschenleer. Er beschloss, Geduld zu üben und hielt es für angemessener, stehend oder herumgehend statt sitzend zu warten. Seine unbestimmte Bange versuchte er zu mildern, indem er, ähnlich dem Besucher einer Kunstgalerie, einer Wand entlangschlenderte, um ein dort aufgehängtes Oelgemälde aus der Nähe zu betrachten. Er sah die Darstellung einer Parkanlage, eine glühende Sommerlandschaft mit erregenden Ausblicken, eine leidenschaftliche Expression, zu der keine Büroseele fähig schien. Noch während er sich im Bild verlor, gleichsam darin spazieren ging, betraten drei ihm bekannte Herren, unter ihnen der Abteilungsleiter Christ, das Sitzungszimmer; man hiess Fred Platz nehmen.

Sein Blick blieb auf dem Oelgemälde haften; er entsann sich eines sommerlichen Sonntagnachmittags: Nachdem er im Stadion ein Fussballspiel verfolgt hatte, verspürte er das Bedürfnis, aus der Menschenmenge zu flüchten, mit sich allein zu sein, und er geriet auf dem Heimweg in einen Park. Ein Gewimmel von kinderreichen Familien säumte den Rasenrand; unter dem wispernden Laub der Parkbäume wurde gepicknickt, palavert, gedöst; kleine nackte Kinder plantschten in einem Wasserbecken, und auf den Bänken thronten Rentner und überwachten das Geschehen. Fred schritt in den schattenlosen Rasen hinaus, der öde war, weil die Hitze so fürchterlich sengte. Er legte sich auf den Rücken ins Gras, das unmerklich zitterte, da ein stiller Wind darüber strich. So ruhte er eine geraume Weile, gab sich der Sonnenglut hin, und schlummerte ein. Aber als er erwachte, fegte ein Sturm durch die menschenleer gewordene Parkanlage. Fred blieb vorerst liegen, starrte auf die herbeihastenden dunklen Wolken, lauschte dem Rauschen des die Baumkronen durcheinanderwirbelnden Winds, bis ihn plötzlich einsetzende Schauer zur Flucht trieben. Er rannte zu einem Kastanienbaum, der ihm Schutz vor dem ungestüm niederprasselnden Regen zu bieten versprach, wurde aber von einem Schlag ins Genick zu Boden geworfen; der Sturm hatte einen Ast gefällt. Und nun lag Fred auf dem Spazierweg, gedrückt vom Ast, und schluchzte vor Schreck und lachte, überwältigt vom Glück, den Blitzschlag überlebt zu haben.

Als Fred ins Büro zurückkehrte, wo Frau Erhart immer noch am Personalcomputer tippte, meldete er mit blasser Stimme, es habe sich um ein Entlassungsgespräch gehandelt; als Familienvater mit sozialen Verpflichtungen träfe es ihn  hart, aber er verstehe es auch als eine Chance. Frau Erhart schien kaum aufzuhorchen; ihre Finger hämmerten ungebrochen weiter auf die Tasten, als wollte sie demonstrieren, wie verbissen sie ihre Lebensstelle zu sichern bereit sei.

„Ich gehe nun in die Mittagspause“, sagte Fred, und er schob sich in seinen Mantel und verliess das Büro. Als er vor dem Gebäude den Fussgängerstreifen überquerte, fuhr ihn ein Auto beinahe über den Haufen; durch die Windschutzscheibe sah er Christs hämisches Grinsen.

Fred  setzte seinen Gang fort, als ob nichts geschehen sei.

Der Verrat

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Von Felix Feigenwinter

„Die Sachlage ist die“, versuchte Herr Krebs festzuhalten, und er räusperte sich in der Mitte des Satzes, der leider nichtssagend blieb. Er ließ seinen Eröffnungsworten entsprechend seiner Gewohnheit die  ebenfalls überflüssige Bemerkung „nicht wahr“ folgen, eine Umständlichkeit, die sein redegewandter Gesprächspartner, Dr. Peter Wolfer, sogleich zu seinem Vorteil auszunützen verstand. So wurde Herrn Krebsens Bemühung, eine seit Jahren unausgesprochene Problematik zur Sprache zu bringen, wieder einmal im Keime erstickt, umso mehr, als  Dr. Wolfer seinem Gegenüber jetzt ein Kräuterbonbon anbot. Er fischte es mit gespreizten Fingern aus einem feingeflochtenen Körbchen, das sich auf dem etwas protzigen Präsidentenschreibtisch hinter den sich wild auftürmenden Aktenbergen wie etwas Fremdes, Frivoles versteckt hielt. Obwohl Herr Krebs Süßigkeiten sonst mied, bemühte er sich, der Geste seines Vorgesetzten gerecht zu werden, indem er das Bonbon beinahe feierlich in den Mund steckte. Vorsichtig lutschend schöpfte er, noch während ihn der Präsident mit einem blitzenden Redeschwall bombardierte, den Verdacht, sich versehentlich respektlos zu benehmen, da sich Dr. Wolfer doch vielleicht keinen Kanzlisten wünschte, der wichtige Anweisungen bonbonlutschend entgegennahm. Diese Vorstellung quälte ihn so sehr,  dass er schließlich zum Gedanken Zuflucht nahm, Dr. Wolfer habe ihm möglicherweise das Bonbon angeboten in der Absicht, ihm damit den Mund zu stopfen.

Wenig später verließ Herr Krebs das Büro des Präsidenten korrekt, mit einer leichten Verbeugung (die Dr. Wolfer für lächerlich, wenngleich angemessen halten mochte), innerlich jedoch blutete er; sein frisch verwundeter Stolz, seine zerknirschte, in heillosem Groll bebende Seele verdunkelte seinen Gang zurück in die von einem grauen Montagmorgen fahl erleuchtete Kanzlei. Dort ging er eine Zeitlang stumm auf und ab, bis ihn das Schrillen des Telefons erschreckte. Innerlich immer noch bebend riss er den Hörer ans Ohr; er hörte eine Frauenstimme, es war Frau Wolfer, die Gattin des Präsidenten, die mit ihrem Mann sprechen wollte, wie oft schon hatte er diese Verbindung hergestellt, ohne seine wahren Gefühle zu offenbaren; zum erstenmal verstellte er sich nicht. „Ich kann nicht verbinden“, schrie er mit anschwellender heiserer Stimme, „der Präsident ist tot. Ich habe ihn getötet“.  Jetzt war es ausgesprochen.

In die nun folgende furchtbare Stille drang sein eigener schwerer Atem aus der Hörmuschel, dann vernahm er wieder Frau Wolfers Stimme, die nun ebenfalls so angstvoll wie schneidend tönte: „Herr Krebs, sind sie in der Kanzlei?“ Herr Krebs antwortete tonlos: „Er ist tot. Ich habe ihn umgebracht. Soeben.“

Hierauf legte er den Hörer zurück auf den Apparat und setzte sich an sein Arbeitspult. Er sah auf die  Kanzleiwand, wo früher Gerichtswitze hingen,  aus Zeitungen ausgeschnitten, die sein längst pensionierter Vorgänger gesammelt und aufgehängt hatte. Dr. Wolfer hatte ihre Beseitigung verfügt, da in einem öffentlich zugänglichen Amtsraum, wie er erklärte, keine Karikaturen zu dulden seien. So blieb als einzige Belebung an der Wand ein Gemälde, eine Leihgabe des kantonalen Kunstkredits, wie die Aufschrift auf dem Schild am Rahmen des Werks verriet. In der ersten Zeit seines Kanzleidaseins hatte Herr Krebs befürchtet, das Bild würde ihm entführt, etwa im Zusammenhang mit einer Museumseröffnung, oder weil ein hoher Chefbeamter die Gabe im eigenen Büro aufgehängt wissen mochte. Mit den Jahren lernte er, diese Angst zu bezähmen. Das Bild war mittlerweile Bestandteil seiner Seele geworden; es begleitete ihn über Mittag, wenn er in einem kleinen Restaurant in der Nähe einen Imbiss zu sich nahm, und abends in seine Junggesellenwohnung am Stadtrand. Die freien Wochenübergänge und die Ferien verbrachte er selten auswärts, da er sich in der Stadt wie ein Fötus eingenistet hatte. Jede Verpflanzung, auch nur eine vorübergehende, gefährdete sein Gleichgewicht.  Die Kanzlei im Stadtzentrum war zu einem Tabernakel geworden; schon in seiner eigenen Wohnung an der Peripherie fühlte er sich wie abgeschoben, verloren. Unauffälliger Kontakt zu Andrea, der Gattin des Präsidenten, war ohnehin nur in der Kanzlei möglich, durchs Telefon, wo er die Stimme dieser wunderbaren Frau, die er mit den Jahren wie eine Ikone verehrte, mit der Stimme des Präsidenten verband. Frau Wolfer nannte er nur ganz heimlich, in flüsternden Monologen, „Andrea“; es ihr einzugestehen war nicht vorgesehen, ja, Herr Krebs hätte es für überflüssig gehalten, da sie in seinen Vorstellungen doch davon wusste!

Wenn sie – selten genug – in der Kanzlei erschien, um ihren Gatten abzuholen, fühlte Herr Krebs ihren geheimnisvoll-leuchtenden, sanft wissenden Blick auf sich ruhen. Diese naturhaft-schöne, herbe Dame erinnerte ihn manchmal nebelhaft an seine zu früh verstorbene Mutter, die ihn von seinem Vater weggenommen hatte, einem kalten, beziehungsarmen Mann, der nach dem Tod der geschiedenen Gattin, als man den Sohn ins Waisenhaus brachte, aus der Stadt zog und sich nicht mehr sehen ließ. Kurz vor der Scheidung war Mutter noch aus der Kirche ausgetreten; Herr Krebs vermutete, um den Vater zu ärgern, der für einen Verein der Pfarrei die Buchhaltung führte. Obwohl Herr Krebs die kirchliche Welt, zu der sein Vater gehörte,  bewusst ablehnte (schon um vermuteten Vorwürfen des Vaters zu begegnen, der frühe Tod der Mutter sei gewissermaßen eine Strafe für den Kirchenaustritt gewesen), spürte er einen Zusammenhang zwischen seiner früheren kindlichen Andacht zur Mutter Gottes Maria in der Kirche und seinem heutigen mystischen Verhältnis zu „Andrea“.

Auf dem Gemälde an der Kanzleiwand schien diese Beziehung festgehalten. Man sah ein Liebespaar. Die Geliebte (sie glich „Andrea“ auch äußerlich, wie Herr Krebs fand) hielt den Kopf des Geliebten wie eine Mutter an ihre Brust. Das Bild war eigentlich schlecht geeignet für eine Gerichtskanzlei; der längst verstorbene frühere Präsident, Dr. Wolfers Kunst liebender Vorgänger, hatte es ausgesucht. Als später Dr.Wolfer das Amt antrat, blieb das Gemälde, entgegen den Befürchtungen von Herrn Krebs, hängen, wahrscheinlich weil es, im Gegensatz zu den Gerichtswitzen des früheren Kanzlisten, von einer offiziellen staatlichen Institution, dem Kunstkredit, geliehen war. Herr Krebs war aber sicher, dass Dr. Wolfer der Sinn für die dargestellten Zärtlichkeiten abging; er hielt ihn für einen unsensiblen, oberflächlichen Mann, der  auf äussere Machtentfaltung bedacht war. Die phantastischen Dimensionen, welche Gewähr für Herrn Krebsens Verbindung zu „Andrea“ boten, blieben dem Präsidenten gewiss verschlossen.

Herr Krebs wusste nicht, wie lange er sinnierend am Pult gesessen hatte, als er Lärm hinter der Kanzleitür hörte, aufgeregte Stimmen, ein wüstes Gepolter; fast gleichzeitig stürzten Uniformierte herein, Herr Binggeli und Herr Furrer, Polizeibeamte, die manchmal Schwerverbrecher zu den Gerichtsverhandlungen geleiteten. Im Türrahmen sah er nun auch Dr. Germann, den zweiten Staatsanwalt, dahinter, wie versteckt im Dunkel des Ganges, Frau Wolfer.

„Andrea!“ rief Herr Krebs und stürzte an den Polizisten vorbei durch den Türrahmen, vorbei am verdatterten Doktor Germann, vor Frau Wolfers Füße, die er zu küssen versuchte, was ihm nicht gelang, da Frau Wolfer, mit Hilfe des Staatsanwalts, ausgewichen war. Dabei entglitt ihr ein Schuh, den nun Herr Krebs, zu Boden gefallen und halb knieend aufgerichtet, wie eine Monstranz umklammerte.

„Macht diesem unwürdigen Auftritt ein Ende!“ befahl der aus einem Seitengang herbeigetretene Doktor Wolfer in voller Missachtung der Bedeutung des Augenblicks in Herrn Krebsens Lebenstragödie. Als Herr Binggeli dem Kanzlisten vorsorglich die Handschellen anlegte, suchte Herr Krebs den Blick von „Andrea“. Die Dame seiner Träume hatte sich von ihm abgewandt, während der von seiner Gattin  umarmte Dr. Wolfer, der Präsident, ihn keines Blickes würdigte.

„Peter“, hauchte Frau Wolfer auf die Schulter ihres Gatten. – „Du hast mich verraten, Andrea“, murmelte Herr Krebs, als er von Binggeli und Furrer an dem in Befremden erstarrten Paar vorbei abgeführt wurde.

(Erstmals erschienen in der Literaturzeitschrift „Poesie“ 1985, Heft 2)

Der Retter

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Von Felix Feigenwinter

Mario lässt sich erschöpft auf sein Bett fallen. Nur die Hose hat er ausgezogen, um die Bügelfalten zu schonen; sie hängt schon, etwas zerknittert, über der Lehne eines Stuhls, über dem ein Bild schwebt, das er früher selbst gemalt hatte, als er noch Künstler werden wollte. Mario weiß inzwischen, dass seine Bilder von niemandem begehrt oder auch nur gebraucht werden; er versuchte es später als Kunsthändler, aber auch damit hatte er keinen Erfolg. So trat er schließlich in eine Versicherungsgesellschaft ein, wo man ihn vor kurzem zum Abteilungsleiter vorgeschlagen hat.

Durchs offene Fenster, durch den Spalt der Gardinen, dringen gebrochene Sonnenstrahlen und für Mario zum Teil unerklärliche Geräusche: ein sich hartnäckig wiederholendes metallisches Kratzen (vielleicht eine Katze oder ein Vogel im Dachkänel); ein dumpfes Scharren; dazwischen die klaren Stimmen spielender Kinder; im Hintergrund das verschwommene Dröhnen von Automotoren, ein heilloses Durcheinander. Dann plötzlich auch das Rauschen eines Wasserstroms. Mario wundert sich: seines Wissens gibt es in diesem Quartier keinen Fluss, auch nicht in der näheren Umgebung! Aber das lang anhaltende Geräusch ist nicht zu überhören, auch nicht zu verwechseln. Der vergebliche Wunsch, dieses Rätsel zu lösen, nimmt Marios Gedanken für Minuten gefangen. Schließlich vermutet er, eine Halluzination zu erleben; mit dieser Vermutung schlummert er ein.

Als er erwacht, dringen unangenehm scharfe Stimmen durch den Gardinenschlitz: es sind Nachbarsleute, die auf einer Dachterrasse ein Fest feiern. Ihre schrillen Kommentare über ein gewesenes oder kommendes Fußballspiel haben ihn geweckt. Die Sonne ist längst über den Dächern verschwunden.

Nachdem er geduscht hat, verlässt Mario das Haus, die aufgeregten Nachbarn auf der Dachterrasse ohne Gruß hinter sich lassend.

Nach einer Fahrt in die Dämmerung gelangt er ans Ufer eines Flusses, der, als Folge der Gewitter der letzten Nacht, viele Hölzer, ja ganze Sträucher und kleine Bäume mit sich schwemmt. Eine Weile staunt Mario in den wild reißenden Strom, bis er sich selber in die Fluten stürzt. Er ist ein guter Schwimmer, und er vermutet, dass er, wenn er nur will, lange Zeit nicht untergehen müsste. Aber diesen Ehrgeiz verspürt er schon gar nicht mehr. Er beschließt, sich vollständig dem Wasserstrom hinzugeben, und er empfindet dies als weitaus angenehmer als die Auslieferung an die Vorgesetzten im Geschäft, die Kämpfe um höhere Umsätze und das verlangte Renommiergehabe unter den Arbeitskollegen in der Firma, deren Ziele er schon lange nicht mehr begreift. All diese enttäuschenden, erwürgenden Erfahrungen sind für ihn nur noch blasse Erinnerungen, geradezu lächerlich, und auch die am Ufer jetzt auftauchenden Häuser, Autos und menschliche Gestalten erfasst Mario als schnell vorüberziehenden, schattenhaften, für ihn bedeutungslosen Spuk. Nur sehr undeutlich, verzerrt, sieht er einen die Arme schwenkenden Mann am Ufer, der ihm etwas zuzurufen scheint. An mehr kann sich Mario nicht erinnern.

Als er das Bewusstsein wiedererlangt, beugt sich ein Arzt mit grüner Gesichtsmaske über ihn. Man hat ihn aus den Fluten in die Notfallstation des Kantonsspitals überführt. Auch sein Retter ist anwesend; er schüttelt Mario die Hand, als ob er seinen Dank erzwingen wollte, und tatscht ihm kumpelhaft an die Schulter. Da Mario seit jeher ein schlechtes Namensgedächtnis hat, was ihm auch seine Arbeit bei der Versicherungsgesellschaft erschwert, vergisst er den Namen des Retters sofort. Er vermutet aber, er würde in der Zeitung publiziert; vielleicht würde der Mann sogar als Held ausgezeichnet und von einem Regierungs- oder Bundesrat empfangen. Diese Überlegungen bedrücken und befremden ihn; der einzige Gedanke, mit dem er sich noch identifizieren kann und der ihn auch beschäftigt, als man ihn nach Hause entlässt, mündet in die Frage: „Was wollen die von mir?“

Eine Antwort darauf scheint das Schreiben zu enthalten, das Mario an jenem Morgen seinem mausgrauen Briefkasten entnimmt, auf dem zwei verwitterte Kleber befestigt sind, die er zum erstenmal wahrnimmt. Mehr Geld, Jahr für Jahr, liest er auf dem einen, grünumrandeten, Ruhige Reise auf einem himmelblauen, auf dem ein Männchen mit Koffer auf einem roten Scheckheft sitzt.

Aus dem Briefumschlag zieht Mario einen „Kursbefehl“ des Amtes für Zivilschutz zu einem „Grundkurs für Schutzraumchefs“. Als Kurszweck wird die „Einführung in die Aufgaben des  Schutzraumchefs“ und die „Grundausbildung zum Vorgesetzten für die Leitung und Betreuung im Schutzraum“ angegeben. Fassungslos starrt Mario auf den Zettel, auf dem mit roter Farbe der Hinweis „Gilt als Aufgebot“ aufgestempelt ist. Der Name des Kursleiters scheint identisch zu sein mit jenem, den ihm sein Lebensretter zugeraunt hatte. Mario hält es für möglich, ja geradezu für zwingend, dass ihm der Retter den Kursbefehl geschickt hat. Der Zusammenhang scheint einer quälenden Logik zu entsprechen.

Keine grosse Liebe

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Von Felix Feigenwinter

I. Als Frau Braun Tellenbach empfing

Eine grosse Liebe ereigne sich in einem Frauenleben einmal, höchstens zweimal, hatte ihr die Grossmutter eingeschärft, in deren Obhut Frau Braun nach dem Drogentod ihrer heroinsüchtigen Mutter aufwuchs. Die Grossmutter hatte ihre grosse Liebe an einen nichtsnutzigen Triebtäter verschwendet, an einen durch und durch verantwortungslosen Egoisten. Frau Braun fand Grossmutters Lebenslüge abscheulich. Als Enkelin einer Frau, die ihre Gefühle einem Unwürdigen verschenkte, einem Kinderschänder, der auch sie missbraucht hatte, misstraute sie allen Glücksversprechungen, auch ihren eigenen Gefühlen.

Nach dem Tod ihrer Grossmutter suchte Frau Braun eine andere Wohnung, um quälenden Erinnerungen zu entrinnen. Nachdem sie in ihr neues Heim eingezogen war, eine kleine Mietwohnung im Haus eines Herrn Tellenbach, erfuhr sie nach und nach Einzelheiten aus der Vergangenheit des neuen Wohnungsvermieters.

Nicht dass sie Tellenbach gefürchtet hätte; dieser grossgewachsene alte Mann  verhielt sich ihr gegenüber vom ersten Tag an korrekt, wie ihr schien, sogar freundlich und hilfsbereit. Doch ihr fehlte die Erfahrung mit einem Menschen, der, wie eine Nachbarin erzählt hatte, seinen Chef umgebracht hatte. Sie war ratlos, wie sie mit ihm umgehen sollte. Anfänglich genierte es sie, ihm im Treppenhaus oder im Garten zu begegnen. Frau Braun arbeitete zu einem bescheidenen Monatslohn in einer Holzofenbäckerei mit angegliedertem Laden, in dem sich auch ein kleines Café befand; dort hatte sie Tellenbach kennengelernt,  und er hatte ihr die Wohnung angeboten.

An einem Vorfrühlingsabend war sie spät von der Arbeit nach Hause gekommen. Immer noch in Schuhen, begoss sie ihre Blumen aus der Plastikkanne, die tagsüber und nachts im Badezimmer die Tropfen aus einem undichten Wasserhahn sammelte. Tellenbach war über den ärgerlichen Defekt informiert; er hatte ihr schon letzte Woche versprochen, für Abhilfe zu sorgen, doch bisher war nichts geschehen. Auf dem Balkon schob sie das Katzenleiterchen zurecht, das der Wind während ihrer Abwesenheit verrückt hatte, in der Hoffnung, ihr von der Grossmutter geerbter, seit Tagen vermisster  Kater würde endlich zurückkehren. Danach zog sie sich ins Wohnzimmer zurück, um fernzusehen. Noch bevor sie den Apparat anstellte, hörte sie vom Fenster her ein Kratzen. Der angelehnte Fensterflügel wurde aufgeschoben – ein Schatten huschte ins Zimmer. „Diamant“ sprang zu ihr aufs Sofa, begrüsste sie schnurrend, kitzelte sie mit seinem Barthaar, der Heuchler. Und während sie sich über das Wiedersehen freute, den Kater zärtlich streichelte, schrillte die Wohnungsglocke. Als sie die Tür öffnete, stand Tellenbach vor ihr, einen Werkzeugkasten in der linken Hand schwenkend. In ihrer Euphorie hätte sie den Mann umarmen können (statt dessen lachte sie nur;  sie dachte an die Nachbarin, die ihr erzählt hatte, ihr Mann sei wegen Tellenbach eifersüchtig geworden, nachdem dieser in ihrer Wohnung die Toilette reparieren kam: „Du bewunderst Männer, die Klodeckel flicken können“, habe er gegiftelt.) Nachdem Tellenbach den lecken Wasserhahn im Badezimmer dicht gemacht hatte, bat sie ihn ins Wohnzimmer und offerierte ihm ein Glas Wein aus der  Flasche, die er ihr beim Einzug in die Wohnung zur Begrüssung geschenkt hatte.

„Gut, dass Ihr Tier wieder zum Vorschein gekommen ist“, meinte er, als er den Kater erblickte, „es hätte mich nicht gewundert, wenn man erzählen würde, der schreckliche Tellenbach habe die Katze eingefangen und als Gulasch verzehrt!“

„So etwas würde ich nie von Ihnen denken!“ heuchelte Frau Braun erschrocken.

„Das meine ich auch nicht“, begütigte der Gast auf dem Sofa; „ich esse übrigens gar keine Tiere, ich bin überzeugter Vegetarier. Aber sicher hat Ihnen auch schon jemand erzählt, ich hätte als gelernter Zahntechniker eine Bestattungsfirma gegründet, um den Toten das Zahngold aus den Mündern zu klauen?!“

„Man munkelt viel“, wagte Frau Braun zuzugeben, „etwa, sie hätten früher ihren Lehrmeister getötet.“

„Das ist richtig. Das habe ich getan, als junger Mann. Ich erschoss meinen Chef; er war der Besitzer des zahntechnischen Labors, wo ich meine Lehre machte. Der Kerl war ein Sadist. Er hat mich bis aufs Blut gedemütigt. Ich könnte Ihnen den ganzen Roman erzählen, aber was soll’s… Ich habe für meine Tat gebüsst, habe einige Jährchen meiner Jugend im Gefängnis verbracht.“

Tellenbach schien Wert darauf zu legen, sie davon zu überzeugen, dass er kein Mörder sei, sondern ein Idealist, der leidenschaftlich gegen Unterdrückung und für Gerechtigkeit kämpfe.

Frau Braun war verstummt ob der Bekenntnisse des kauzigen Alten. Tellenbach holte weiter aus: Als ihm jemand seinen Namen „Wilhelm Tellenbach“ auf dem Schild seiner Bestattungsfirma mit blutroter Farbe überschmiert und auf „Wilhelm Tell“ gekürzt habe, habe er die Schmiererei neben dem Hauseingang absichtlich gelassen, bis zur Liquidation des Betriebs. „Sie können das Schild heute in meiner Wohnung bewundern. Wilhelm Tell! War das ein Mörder?“

Die bizarrste Nacht ihres Lebens durchwachte Frau Braun in den Armen des grauen Heroen, der sie schwängerte. Sie trug das Kind aus, mit stolzer Beharrlichkeit und  Würde, im Glauben, dass sie den verrückten alten Kerl aus dem Dachstock zwar nie heiraten würde, dass er aber sie und ihr Kind nicht im Stich lassen wolle. Dem Alten gegenüber verspürte sie keine Zuneigung, schon gar keine „grosse Liebe“, nichts dergleichen; sie verdankte ihm ihr Kind, das genügte. Insgeheim hielt sie sich für eine Geschädigte. Nach heftigen Gefühlen nach einem Mann stand ihr nicht der Sinn.

Doch Tellenbach machte keine Anstalten, für das Kind aufzukommen. Er erklärte ihr, sie sei  selber schuld; er habe nie ein Kind gewollt.

 

II. Tellenbachs Sturz

Die lähmende Hitze des samstäglichen Julinachmittags mag dazu beigetragen haben, dass der schreckliche, ja skandalöse Vorfall nur wenige Hausbesucher und Nachbarn entsetzte. Auf dem Balkon des zweiten Stockwerks döste seit gut zwei Stunden der stellvertretende Abteilungsleiter des Erbschaftsamtes Sepp Winkelried. Seine Gattin, eine gebürtige Ausländerin, nannte ihn „José“, manchmal spasseshalber auch „Giuseppe“; seine betagte Mutter redete immer vom „Seppli“, wenn sie ihn meinte, Parteifreunde sagten „Sepp“ zu ihn, Arbeitskollegen „Joe“. Nur der alte Tellenbach hatte ihn unbeirrt mit „Josef“ angesprochen. Im Telefonbuch war er jahrelang unter „Winkelried Josef“ zu finden gewesen, seit kurzem war die Telefonnummer hinter „Winkelried Sepp“ eingetragen, auf Anregung eines Parteifreundes übrigens, der als Werbefachmann wirkte und den kräftigeren und volkstümlicheren Namen Sepp dem ernsthafteren, doch wie er fand, faderen „Josef“ vorzog.

Sepp, José, Giuseppe, Seppli, Joe und Josef Winkelried lag auf einer zusamenklappbaren Liege, versteckt hinter farbigen Vorhängen, welche die Sicht vom Garten und aus den Fenstern der umliegenden Häuser angenehm behinderten, wenn nicht gerade ein Windstoss die von Frau Winkelried phantasievoll aufgehängten Geländerverkleidungen fast unanständig aufblähte.

Winkelried fühlte sich geborgen unter dem Sonnenschirm und hinter den bunten Tüchern, die ihm wie wunderbare Frauenröcke vorkamen, unter denen er sich versteckt hielt, und er hoffte, an diesem geruhsamen Nachmittag seine Magenschmerzen dank Entspannung, kühlem Kamillentee und Vanillejoghurt auskurieren zu können, denn es standen strube Zeiten bevor. Die Herausforderungen im Erbschaftsamt, wo er hauptberuflich tätig war, verlangten jeden Werktag von morgens früh bis abends spät seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Begünstigt durch die bevorstehende Frühpensionierung des gegenwärtigen Amtsinhabers schien seine Beförderung zum Abteilungsleiter nicht mehr aufzuhalten zu sein. Dazu hatte er sich auf der Liste seiner Partei für die kantonalen Parlamentswahlen aufstellen lassen, und er hatte sogar Chancen, gewählt zu werden, so dass er sich im Wahlkampf entsprechend engagieren müsste, was schon nach den Sommerferien beginnen und bis in den Spätherbst hinein dauern würde, mit wochenlangem Einsatz in der Freizeit, mit Auftritten an abendlichen Wahlveranstaltungen und an freien Samstagen hinter Parteiständen auf der Strasse.

Irgendwann musste er eingeschlummert und irgendwann wieder aufgewacht sein. Ein sonderbarer Traum beunruhigte ihn. Wäre nicht Wilma, seine Frau, auf dem Balkon erschienen, um ihr Bikini und ein Frottiertuch an den Wäscheständer zu hängen, wäre es ihm schwergefallen, sich zu orientieren, so unauffällig schienen an diesem fiebrigen Sommertag Traum und Wirklichkeit ineinander überzugehen. Winkelried spürte das Bedürfnis, den Traum mitzuteilen, und er bat Wilma, sich zu ihm zu setzen, damit er ihn erzählen könne.

„Mein lieber José“, sagte Wilma, nachdem sie seinen unglaublichen Schilderungen gelauscht hatte, „das ist aber schlimm! Siehst du in mir wirklich eine solch böse Hexe?!“ Wilma sprach seinen Namen immer französisch aus, wenn sie ihn „José“ nannte, elegant und sanft mit dem weichen „Sch“ zu Beginn des Wortes (nicht spanisch mit dem strengen „Ch“). Sepp alias José Winkelried wiegte sich in Wilmas verbalem Charme, der ihm ungeahnte Horizonte eröffnet hatte, weil er seine anerzogene, vielleicht auch angeborene Schwerfälligkeit im Umgang mit Gedanken, Gegenständen und Menschen auflockerte, ihn befähigte, das Leben etwas leichter, spielerischer zu bewältigen. Sicher hatte Wilma damit, ohne es vielleicht zu wissen, den Weg zu seiner beruflichen und politischen Laufbahn geebnet.

Schon bereute José, seine Gattin mit der Erzählung des beklemmenden Traums irritiert zu haben. Er versuchte, ihn reflektierend zu relativieren, ihn nachträglich eher komisch als dämonisch zu interpretieren. Aber ein ungehöriges Rumpeln, vermischt mit einem kurzen, unterdrückten menschlichen Schrei schreckte das Ehepaar aus dem Gespräch. Fast gleichzeitig durchdrang das Geräusch eines dumpfen Aufpralls den schläfrigen Nachmittag.

Während José etwas verdutzt auf seiner Liege ausgestreckt blieb, sprang Wilma sofort auf. Sie beugte sich über das Balkongeländer und erblickte den nur mit einem Hemd bekleideten Wilhelm Tellenbach, den Hausbesitzer aus der Dachwohnung. Er lag gekrümmt auf den einst von ihm selbst gelegten Steinplatten im Garten, offensichtlich leblos. Mauerstücke und Geländerteile, die offenbar von der Dachterrasse herausgebrochen waren, umlagerten die auch im Tod noch markante Gestalt, teils auf den Platten, teils im Rasen verstreut. Die Rosenstauden entlang dem Gartenweg schienen vom Toten, als er noch lebte, genau für diese Szenerie gepflanzt und gehegt worden zu sein (Wilma verscheuchte den unheimlichen Gedanken, der sie angesichts der makaberen Idylle aus der Balkonperspektive beschlich), aber die drei Birken und der Ahorn, dessen Krone Tellenbachs Haus seit Jahren bei weitem überragte, schienen vom Unglück nicht betroffen, obwohl die Bäume, so schien es Wilma, auch gut in einen Friedhof gepasst hätten. Ihr kleiner Sohn hatte den Sturz glücklicherweise nicht mitbekommen; Frau Braun hatte das Kind zusammen mit ihrer kleinen Tochter ins Schwimmbad mitgenommen. Aber jetzt sah Wilma sie zurückkehren: sie näherten sich dem Haus von der Strasse her; das muntere Kindergeplauder war schon deutlich zu hören. Normalerweise hätte Wilma gerufen und gewinkt, aber nun liess sie es bleiben, um die Aufmerksamkeit der Kinder nicht auf den Toten zu lenken. Der Anblick des verunfallten Alten im Garten, unweit vom Sandkasten, wo die Kinder oft spielten, hätte ihren Sohn fürs Leben traumatisieren können, stellte sie sich vor, und sie hetzte durch die Wohnung, durchs Treppenhaus, hinunter vors Haus, um die ahnungslosen Heimkehrenden abzufangen, sie auf den Schrecken vorzubereiten.

Auf dem Balkon hatte sich inzwischen auch Sepp Winkelried erhoben. Er fühlte sich schwindlig und stützte sich aufs Balkongeländer. Ungläubig starrte er in den Garten, unschlüssig, ob er seine Wahrnehmung für Wirklichkeit halten sollte.

Allmählich begriff er, dass er einen wirklichen Toten betrachtete.

Angesichts des aus dem Dachstock Gestürzten beschlichen ihn zwiespältige Gefühle. Da lag der Hausbesitzer und Wohnungsvermieter, aber er war gleichzeitig der erste –  geschiedene – Ehemann seiner Frau Wilma (die Ehe dauerte etwa vier Wochen, dann flüchtete Wilma in seine, Sepp Winkelrieds, Arme, doch der alte Tellenbach lockte das Paar zurück in sein Haus…); Tellenbach war Trauzeuge und Ehrengast an ihrer Hochzeit und, das Bedrückendste von allem, der leibliche Vater seines, Josef Winkelrieds, Sohnes!

Winkelried versuchte Tellenbachs Schatten aufzuhellen. Ueberrascht fühlte er Heiterkeit  in sich aufsteigen beim Gedanken, dass der in seiner Jugend wegen Totschlags verurteilte Schwerenöter nun selbst durch einen gewaltsamen Tod gefällt worden war.

Die Ironie des Schicksals empfand Winkelried als wohltuend, sie entprach seiner Vorstellung von Logik, von Gerechtigkeit.

*

Niemand im Haus schien daran zu zweifeln, dass Tellenbach Opfer eines (wie Josef Winkelried es ausdrückte: für ihn typischen) Unfalls gewesen sei. Nur der käsige alte Mann, der stundenlang im Garten und überall im Haus herumschnüffelte, schien dieser Erklärung zu misstrauen. Unterstützt von einem technischen Fahndungsteam inspizierte er den hintersten Winkel der Liegenschaft, auch den Laden im Parterre, wo früher der Bestattungsunternehmer Tellenbach seine Särge ausstellte und heute als Antiquitäten- und Kuriositätenhändler Samoware, Barockengel und Wilhelm-Tell-Denkmäler en miniature anbot. Und er plauderte mit allen Hausbewohnern, sogar mit den beiden kleinen Kindern, auch  mit einigen Nachbarn.

Der für einen Kriminalkommissar ziemlich abgetakelt, ja wackelig wirkende Kettenraucher, der sich übrigens als „Detektiv Borer“ vorstellte und allen, mit denen er sprach, einen Ausweis mit Foto hinstreckte, interessierte sich unter anderem für das frühere Leben des Toten, und dieses war nun weiss Gott ungewöhnlich genug. In seinen Notizblock kritzelte der alte Fahnder Beobachtungen und Recherchen mit auffallend zittriger, nervöser Schrift, die vermutlich nur er selber entziffern konnte. Der Studie über Tellenbach schien der Detektiv weit mehr Gewicht beizumessen als der unmittelbaren Suche nach einem mutmasslichen Mörder, die Borers hartnäckige Ermittlungen doch eigentlich erst hätten sinnvoll erscheinen lassen, wie Winkelried kopfschüttelnd kritisierte. Aber Borer, ein ungemütlich undurchsichtiger Mensch, wie Wilma und Josef Winkelried gleichermassen fanden, deutete an, dass auch die Möglichkeit eines Selbstmordes sorgfältig geprüft werden müsse; bei einem Mann, der früher einen Menschen getötet habe, was aktenkundig sei, sei ein aussergewöhnliches Aggressionspotential anzunehmen. Winkelried misstraute auch dieser Aeusserung; er witterte irgendwelche psychologische Ablenkungsmanöver des Berufsschnüfflers, traute ihm perfide taktische Spielchen zu, die er in diesem Fall für ärgerlich, weil unnötig hielt, denn für ihn war klar: Tellenbach war verunfallt, durch einen unglücklichen Einbruch des morschen Gemäuers und Terrassengeländers zu Tode gestürzt. Da gab es keinen Täter zu suchen – der einzige Mörder im Haus war tot…

Josef Winkelried nervte die ganze Angelegenheit, dieser Aufstand, als er sich zu erholen hoffte, und die seither nicht ruhenden Untersuchungen und Befragungen durch den gelbfingrigen Fahnder, der im Haus Tabakgestank und Zigarettenstummel hinterliess wie ein Hund seine Duftmarken. All das schädige sein Image, befürchtete Winkelried, auf das er nun doch besonders angewiesen war vor den Parlamentswahlen und auch im Hinblick auf die erhoffte Beförderung zum Abteilungsleiter, ein Meilenstein in seiner beruflichen Laufbahn; zudem beeinträchtigte es seine Gesundheit (die Magenschmerzen hatten wieder zugenommen).

                                                                 *

Und Borer telefonierte frühmorgens sogar in Winkelrieds Büro. Er möchte ihn nochmals sprechen, sagte er, eine halbe Stunde genüge; er möge ihm bitte sagen, um welche Zeit es ihm möglich sei. Winkelried wurde wütend; er habe weiss Gott keine überflüssige Zeit, schimpfte er, aber dann nahm er sich zusammen (die Sekretärin hörte zu, schiesslich sollte er Abteilungsleiter werden!), und er vereinbarte in sachlichem Ton ein Rendez-vous über Mittag.

Der aufsässige Schnüffler erschien pünktlich, er zog ein Tonbandgerät aus seinem Ledertäschchen und bat Winkelried, ihm den Traum, den er laut Befragung vom 18. Juli am Nachmittag kurz vor Tellenbachs Sturz auf dem Balkon seiner Frau erzählt habe, was Winkelried ihm im Eifer der ersten Aufregung auch noch mitgeteilt hatte, auf das Tonband zu sprechen.

Winkelried war perplex. „Meinen Sie nicht, das geht doch etwas weit?“ fragte er den ihn undurchsichtig musternden Kriminalbeamten, „ein Traum ist etwas sehr Persönliches, sehr Intimes, und was soll ein Traum in den Akten einer kriminalistischen Untersuchung? Sie sind doch nicht Angestellter eines psychologischen oder psychiatrischen Instituts, oder? Die befassen sich mit Träumen, mit dem Unterbewussten…“

„Erzählen Sie nur ruhig, wir haben Schweigepflicht. Nichts dringt an die Öffentlichkeit!“ behauptete Borer.

„Gerichtsverhandlungen sind bekanntlich öffentlich“, widersprach Winkelried. „Falls es zu einem Mordprozess käme, würden solche Informationen doch auch publiziert! Aber da ich fest davon überzeugt bin, dass Tellenbach verunglückt ist, kann ich ja ruhig loslegen.“

Winkelrieds Tonfall war jetzt spöttisch geworden. Die Sache begann ihm nun doch langsam Spass zu machen.

„Erzählen Sie“, wiederholte Borer beharrlich.

Und Winkelried legte los.

*

„Entschuldigung“ meldete sich Borer, „erzählen Sie nun aus Ihrem Traum oder aus der Wirklichkeit?“

„Aus meinem Traum, wie Sie´s ja wollen!“

„Gut“, sagte Borer, „ich meine nur, weil Sie den Traum wie eine sorgfältig aufgebaute Geschichte erzählen. Ich kann mich nicht erinnern, je einen Traum gehabt zu haben, wo solche ausführlichen Dialoge vorkamen. Träume setzen sich  doch meistens aus Bildern zusammen.“

„Ich erzähle Ihnen meinen Traum in Form einer Geschichte, einverstanden?“

„Gut, gut“, meinte Borer und paffte Winkelried den Rauch seiner Zigarette ins Gesicht, „wichtig ist der Inhalt, nicht die Form. Wer aber ist José, sollen Sie das sein? Ich dachte, Sie heissen Sepp, oder Josef?“

„Meine Frau nennt mich José“, erklärte Winkelried.

„Und Elsbeth, eine Traumfigur oder eine wirklich existierende Person?“

„Beides“, sagte Winkelried, „soll ich nun weitererzählen?“

„Ja“, sagte Borer, „mit Willi ist, nehme ich an, Wilhelm Tellenbach gemeint.“

„Wo bin ich stehengeblieben?“

*

„Entschuldigen Sie“, unterbrach Borer erneut, nun ziemlich ungeduldig, „könnten Sie das Ganze nicht etwas straffen, das Wesentliche schildern? Sonst sitzen wir den ganzen Nachmittag hier, vielleicht noch abends! Und“, argwöhnte er ärgerlich, „ist es überhaupt möglich, sich an derart lange Dialoge aus einem Traum so genau zu erinnern?“

„Wie Sie wollen“, meinte Winkelried, inzwischen glänzend gelaunt und hochinspiriert; es freute ihn offensichtlich, dem Kriminalisten als Märchenonkel zur Verfügung zu stehen, und je ungehaltener Borer wurde, desto genüsslicher schien Winkelried mit seiner Erzählung auszuholen.

Wieder störte Borer. „Kürzer“, seufzte er, „bitte kürzer! Straffer! Das Wesentliche!“

„Es kommt gleich“, versprach Winkelried, „es wird Sie sehr interessieren, denn nun wird`s kriminalistisch!“

Borer, hin- und hergerissen zwischen seiner Neugier und dem unbehaglichen Eindruck, Winkelried würde ihn auf den Arm nehmen, nickte resigniert.

(Borer setzte zur Frage an, wer Elsbeth genau sei, aber er unterdrückte sie, wohl, um Winkelried nicht noch mehr zu Ausschweifungen zu ermutigen.)

*

„Stopp!“ befahl Borer, „es genügt!“ Er schaltete das Tonbandgerät aus und packte es in sein Mäppchen. „Kann ich telefonieren?“

Winkelried schob ihm den Telefonapparat hin.

„Bitteschön.“

Borer schien Winkelrieds Frau zu telefonieren, denn er sagte: „Guten Tag Frau Winkelried, ist mein Kollege, Herr Marti, noch bei Ihnen? Könnte ich bitte mit ihm sprechen?“

Nach einer kurzen Pause sagte er: „Hallo, Rolf, hat alles geklappt? Ja, bei mir auch. Herr Winkeklried hat mir den Traum ausführlich erzählt, die reinste Märchenstunde…“

Borer verabschiedete sich knapp und war schon aus dem Büro verschwunden. Winkelried riss die Fenster auf, dann trug er den überfüllten Aschenbecher zur Toilette, wo er Borers Hinterlassenschaft hinunterspülte. Zurück im Büro, telefonierte er Wilma und erfuhr, dass bei seiner Frau ein anderer Kriminalbeamter erschienen sei, der sie ebenfalls nach dem Traum befragt habe.

„Was hast du erzählt?“ fragte Winkelried.

„Nur das Wesentliche, ganz kurz“, sagte Wilma, „und du?“

„Eine ausgeschmückte Version – mit allem Drum und Dran. Ich kam mir wie die Gebrüder Grimm vor…“

Wilma lachte. „Dann hast du ihnen viel Material geliefert! Aber was soll das Ganze? Wieso interessieren die sich für Träume?“

„Träume sind Schäume, meinst du? Du vergisst die Tiefenpsychologie! Nein, im Ernst: Ich glaube, das Ganze ist viel banaler. Die wollten wahrscheinlich einfach feststellen, ob wir gelogen hatten, als wir aussagten, ich hätte dir kurz vor Tellenbachs Sturz einen Traum erzählt. Jetzt wollten sie überprüfen, ob wir das Gleiche erzählen. Wenn du einen ganz anderen Traum erzählt hättest als ich, könnten sie uns überführen…“

„Des Mordes?“ witzelte Wilma.

„Der Lüge. Und unser Alibi wäre nicht mehr glaubwürdig… Und dann würden wir weiter belästigt von diesem fürchterlichen Kettenraucher, der mein ganzes Büro verpestet hat!“

„Nein“, wusste Wilma, „der junge Kriminalbeamte, der mich befragt hat, sagte mir, Borer sei nur Ferienaushilfe; normalerweise würden sie ihn nicht mehr auf die Leute loslassen. Nächste Woche käme der Chef aus den Ferien zurück. Dann hätten wir es mit jemand anderem zu tun…“

Winkelried schien von dieser Botschaft nicht besonders beglückt zu sein. „Am liebsten wäre es mir, ich könnte meine Zeit wieder sinnvoller einsetzen als für solch unnötige Verhöre! Entschuldigung, jetzt muss ich aufhängen – ich habe noch nichts gegessen. In zwanzig Minuten ist die Mittagspause zu Ende. Alles wegen diesem Tabakgilb!“

Winkelried eilte hinaus zur nächsten Imbissecke. Ein erneuter Anfall von Magenschmerzen verhinderte, dass er das Sandwich zu Ende ass.

Aber am darauffolgenden Dienstag besuchte tatsächlich ein braungebrannter, ferienentspannter neuer Kommissar – ein Herr Jäger – Frau Winkelried und teilte ihr mit, dass die Untersuchung nun abgeschlossen sei und der Fall ad acta gelegt werden könne. Die Ermittlungen hätten ergeben, dass Tellenbach verunglückt, nicht ermordet worden sei. Auch Selbstmord werde ausgeschlossen.

„Entweder hat Borer so gute Ermittlungsarbeit geleistet, dass aufgrund seiner Unterlagen dieser Entscheid nun rasch gefällt werden konnte“, meinte Winkelried erleichtert, nachdem ihm seine Frau davon berichtet hatte, „oder er hat sich völlig unnötig ins Zeug gelegt… Aber ich frage mich, warum nur wir so hartnäckig verhört wurden. Warum nicht auch Frau Braun?“

„Nun hör‘ aber auf!“ mahnte Wilma. „Als erwerbslose unverheiratete Mutter und Psychiatriepatientin hat sie Probleme. Sie soll nicht noch von einem Kriminalschnüffler belästigt werden!“

 

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Ein Prinz aus  fremdem Reich

Eines Morgens erreichte sie das Liebesgedicht eines Unbekannten, deren Identität ihr verborgen blieb. Der Briefumschlag, den sie ihrem Postfach entnahm und in dem sie den rätselhaften Text fand, verschwieg Namen und Adresse des Absenders. Erstaunt und beunruhigt las sie die Zeilen eines Anonymlings, der sie aus einem Versteck heraus ansprach. Gezielt, doch feige, unfassbar wie ein Gespenst, übergoss er sie:

Zufällig

einen Augenblick kurz

fiel meine Seele

in deine Seele

beim alltäglichen Zwischenhalt

an der Bushaltestelle

Im Spiegel unserer Blicke

umarmte ich dich

freudig erregt

Sekunden schnell

getarnt

unter gewöhnlich Wartenden

Unser Lachen

durch die Fensterscheibe

in der glitzernden Mittagssonne

zertrümmerte

mit unhörbarem Klirren

die gläserne Wand.

Ihre Irritation verflüchtigte sich allmählich, denn der okkulte Verehrer meldete sich nicht mehr. War er ein poetisch veranlagter Spassvogel, ein frivoler Spieler – oder ein leidenschaftlich Besessener? Sie zwang sich, den Vorfall zu vergessen. Das Gedicht, diese wahnwitzige Liebeserklärung eines Unsichtbaren, bewahrte sie in ihrer Handtasche; von Zeit zu Zeit holte sie es hervor und las es im Stillen.

****

Als sie noch keinen Wunsch nach einem eigenen Kind verspürte, fuhr sie manchmal in eine fremde Stadt, um Unerwartetes zu erleben. So schlenderte sie einmal durch eine ihr endlos scheinende Geschäftsstrasse einer Metropole und bewunderte die Schaufenster der Bijoutiers.  Plötzlich, wie im Traum, betrat sie einen dieser Läden, betört durch einen besonders prächtigen, selten grossen und strahlenden, in geschmeidiges Gold gefassten Diamanten, der mit keinem Preisschild versehen war. Sogleich erschien ein in aparte Seide gekleideter, dezent parfümierter junger Herr, der sie mit unbewegt freundlicher Miene vom Scheitel bis zur Sohle diskret musterte und sich gleichzeitig in leise süffisantem Ton nach ihrem Begehren erkundigte. Mit stockender, vor Verlegenheit belegter Stimme fragte sie nach dem Preis der im Schaufenster strahlenden Köstlichkeit. Ihre kindliche Verblendung, ihre wahnhafte Begeisterung war angesichts des distinguierten Jünglings  relativiert worden, der aus einer für sie in Wirklichkeit unerreichbaren Welt vor ihr aufgetaucht war. Der feine junge Herr lächelte beharrlich, nun aber eher bedauernd als süffisant, wie ihr schien („er ist eben doch ein kultivierter Mensch mit angenehmen Manieren und vielleicht sogar Herzensbildung“, erwog sie, „möglicherweise der Sohn des Geschäftsinhabers“). Mit höflicher Stimme sagte er: „Vierundsiebzigtausend“. Erschüttert verbeugte sie sich, flüchtete aus dem Laden, ein unsinniges „Aufwiedersehen!“ und „Entschuldigung!“ stammelnd; dabei versuchte sie, jeden Blickkontakt mit diesem Prinzen aus dem Reich der Millionäre und Milliardäre zu vermeiden, obwohl er ihr die Türe hielt.

Das Lachen in der Nacht

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Von Felix Feigenwinter

Louis, ihr erster Ehemann, der ein Zyniker war, von dem sie sich scheiden liess, nachdem sie Bruno kennengelernt hatte –  Louis also, der nie herzhaft gelacht, nur manchmal gegrinst hatte, zitierte genüsslich, was er irgendwann irgendwo aufgeschnappt hatte: Lachen sei die eleganteste Art, seinen Feinden die Zähne zu zeigen. Daran musste Gisela denken, wenn Brunos Stimme aus der Kammer drang.

Bruno war kein Zyniker, und das Blecken seines ramponierten Gebisses, das sie sich vorzustellen versuchte, wenn sie sein einsames Lachen vernahm, schien Melancholie auszudrücken, Verzweiflung vielleicht – keinen Hochmut.

Manchmal brach sein Lachen aus seinem Schlafzimmer, das durchs Wohnzimmer von dem ihren getrennt war, durch sein offenes Fenster, und dann drang es von draussen durch ihr Fenster. Das geschah  in der warmen Jahreszeit, während linden Frühlings- oder schwülen Sommernächten, und manchmal auch an Herbstabenden, wenn der Föhn die Stadt bedrückte. Eigentlich war es kein richtiges Lachen, eher ein heiseres Bellen. Es löste sich aus einem unbestimmten nächtlichen Dröhnen, und zuweilen war es kaum unterscheidbar vom durchdringenden Heulen aus irgendwelchen fremden Wohnungen oder vom Jaulen der Katzen, die durch die Vorgärten streunten. Nein, Brunos Lachen war alles andere als heiter; aber zunehmend befürchtete sie, dass es seine einzige Aeusserung sei, die sie nach zwanzigjähriger Ehe noch berühre.

Tagsüber war Bruno in einem Büro stationiert, das sich in einer Holzbaracke auf dem Gelände eines Güterbahnhofs am Rande der Stadt befand. Dort erledigte er Schreibarbeiten, füllte sachkundig Formulare aus; zwischendurch streunte er durch die zügigen Hallen des Güterbahnhofs, wo er Transportgüter aufspürte, die er für die Zollabfertigung bereitzuhalten hatte. Manchmal, auch wenn die Sonne brannte, es regnete oder schneite, ging er draussen durch die weiten Geleiseanlagen entlang den Güterzügen. Während den Arbeitspausen sass er in der Holzbaracke mit Berufskollegen zusammen, ass dicke Schinkenbrote und Essiggurken und trank Bier oder Wein. Es wurde  viel Bier und Wein getrunken in der Baracke; es hiess, die Baräckler seien Alkoholiker.

Zu jener Nachtstunde lag Gisela noch nicht im Bett. Wie stets, nachdem sie abends in einem Restaurant in der Innenstadt gearbeitet hatte, benützte sie den letzten Bus, den sogenannten Lumpensammler, der späte Heimkehrer in die Aussenquartiere brachte. Wäre sie zuhause gewesen, hätte sie das Lachen kaum erreicht, denn es war Herbst; ein kühler, nasser Wind durchwehte die Stadt. Ihr Schlafzimmerfenster war geschlossen, und es wäre es bestimmt auch gewesen, wenn sie den Abend daheim verbracht hätte.

Das Lachen entwich dem einzigen offenen Fenster des Hauses, dessen Fassade im Schein der Strassenbeleuchtung an eine Theaterkulisse gemahnte. Vor ihr tauchte die schwankende Gestalt eines Betrunkenen auf. Sie erkannte Hansjörg Stöckli, einen Alkoholkranken, der im Nachbarhaus zusammen mit seiner betagten Mutter wohnte. Einen Augenblick lang erwog sie, umzukehren, in eine Nebenstrasse auszuweichen, durchs nächtliche Quartier zu schleichen, bis der unangenehme Nachbar verschwunden sein würde. Aber die Kälte der Herbstnacht durchsickerte ihre Kleider und griff nach ihren Eingeweiden.  – Eines Morgens hatte sie Stöckli im kleinen Vorgarten entdeckt, wo er in einem Strauch sass, in den er offenbar gekippt war; hilflos umarmte er einen zerzausten Rosenstrauss aus einem Blumenladen. Sie hatte dem Sternhagelvollen auf die Beine geholfen und ihn zur Wohnungstür geführt, wo ihn die Mutter empfing; die alte Frau bedankte sich bei Gisela  und entschuldigte sich für ihren Sohn; sie habe heute Geburtstag, erklärte sie und  versuchte, den zerfledderten Blumenstrauss  zu ordnen. – Jetzt,  nach Mitternacht,  schien  Stöckli Gisela nicht zu erkennen. Als sie sich ihm näherte, knöpfte er die Hose auf und begann, enthemmt, wie er war,  auf die Strasse zu pinkeln. Mit einem Sprung zur Seite verhinderte sie, vom Urinstrahl getroffen zu werden. Nun war sie  nicht mehr bereit, sich um die tragische Figur  zu kümmern.

Vorsichtig öffnete sie die Haustür. Sie drückte auf den rot leuchtenden Knopf, und sie stieg fast lautlos durchs matt beleuchtete Treppenhaus. Sie schlich in die Wohnung, vorbei am Kakteenfensterbeet, das Bruno einst eingerichtet hatte und das er immer noch regelmässig begoss. Durch den Türspalt erspähte sie die Dunkelheit, wo er sich versteckt hielt. Vorher, als sie auf der Strasse gegangen war, hatte Licht aus der Kammer geschienen. Vielleicht war Bruno im Bett noch wach gelegen und hatte ihre Heimkehr bemerkt; jetzt stellte er sich schlafend. Leise schaudernd ging sie weiter, vorbei am unbewohnten Kinderzimmer, dessen Türfalle sie sachte berührte, eine Gewohnheit, die ein verständnisloser Beobachter vielleicht als Verschrobenheit gedeutet hätte. (Bruno war diese Eigenart vertraut; er hatte sie zum erstenmal nach dem Auszug des Kindes aus der Wohnung wahrgenommen, und es hätte ihn beunruhigt, wenn Gisela eines Tages darauf verzichtet hätte.) Im Wohnzimmer öffnete sie die angelehnte Tür ihres eigenen Schlafgemachs. Sie stellte die Handtasche auf die Kommode und begann, die Kleider auszuziehen. Sie streifte das Nachthemd über, ging nochmals durchs Wohnzimmer ins Vestibül und durch die Küche zur Toilette; danach blieb sie in der Küche. Bestrahlt vom Neonlicht am Klapptisch sitzend, verschlang sie eine Bratwurst, die sie wie abwesend aus dem Kühlschrank geholt hatte, ohne die Holzschüssel mit dem Kartoffel- und Tomatensalat zu beachten, die daneben bereitstand.

Kurz darauf durchstreifte Bruno mit einem Pyjama bekleidet die Küche, um die Toilette zu erreichen. Wortlos wie ein Gespenst verschwand er, und Gisela betrachtete das zerfledderte Spinngewebe, das über dem geschlossenen Küchenfenster von einem rätselhaften Luftzug unaufhörlich leise durchweht wurde und an die sonst nackte Decke zitternde Schatten warf. Bruno kehrte zurück und blieb vor Gisela stehen. Nun starrte er auf den kahlen Teller, wo die Wurst gelegen hatte, und seine vorwurfsvollen Worte, die er deutlich auszusprechen versuchte, vermischten sich mit dem Rauschen sprudelnden Klowassers:

„Du hast die Wurst kalt gegessen, ohne Senf und Brot. Und den Salat hast du stehengelassen; die Kartoffeln und die Tomaten würden dir gut tun!“

Der Mann wirkte zerzaust, sein Gesicht war schattenbehangen, das Haar türmte sich zu einer wilden, wirren Mähne. Seine Alkoholfahne hätte Gisela überprüfen können, indem sie auf ihn zugegangen wäre und sich hätte küssen lassen; aber sie verzichtete darauf.

Als sie sich vor über fünfundzwanzig Jahren kennenlernten, spielte Bruno hauptberuflich  Saxophon. Er war ein leidenschaftlicher, kein ausgebildeter Musiker. Mit seiner Band trat er an Hochzeiten, an Firmenanlässen und an Volksfesten auf, und dreimal wöchentlich spielte er in einem eher obskuren Nachtlokal, wo kein gediegenes Publikum verkehrte, wie sich Gisela erinnerte; vor allem Betrunkene hatten sich an Brunos Musik ergötzt. So war Gisela erleichtert, als er nach der Geburt der Tochter das Lotterleben als freischaffender Musikant mit einer Anstellung bei einer internationalen Transportfirma eintauschte; Brunos Eltern hatten auf dem Abschluss einer Berufsausbildung bestanden, und sie schienen beruhigt, ihren Sohn nun im Schosse eines etablierten Arbeitgebers beschäftigt zu wissen; „jetzt hast du eine gesicherte Existenz!“, hatte der Vater frohlockt. Dem desavouierten Musiker entging indes keine Gelegenheit, zu beteuern, wie sehr er es hasse, ein Leben im Schraubstock führen zu müssen, wie er es nannte. Als Angestellter würde er langsam, aber sicher zum seelischen Krüppel, klagte er Jahre lang. Nachdem er auf dem Flohmarkt, gewissermassen demonstrativ, seine beiden Saxophone verschachert hatte, verfiel er immer mehr trotziger Eigenbrötelei.

„Du siehst schlecht aus“, bemerkte Gisela nun mit kühler, sachlicher Stimme, und sie hätte noch beifügen können: „Du bist ein armer Tropf!“, aber das hätte sie übertrieben gefunden.

Ohne seine absurde Nörgelei zu zerstreuen, verzog sich Bruno, mit der linken Hand unkontrolliert im Haar kratzend, und sie hörte, wie er seine Schlafzimmertür hinter sich schloss.

Gisela erhob sich. Sie zündete eine Zigarette an, deren Rauch  sie einsog, während sie in der Küche hin- und herging. Später öffnete sie das Küchenfenster. Dort verharrte sie minutenlang. Durchs spärlich belaubte Baumgeäst erblickte sie am Rand der Hintergärten die Mauern von Nachbarhäusern; einige Fensterscheiben schimmerten. Eine Maueröffnung gab den Blick in eine gelb erleuchtete Kammer frei; zwei Gestalten umarmten sich reglos. Durch ein anderes Fenster leuchtete rotes Licht.

Nachdem sie ihr Schlafzimmer aufgesucht und sich ins Bett gelegt hatte, versank sie widerstandslos in Traumbildern, aber bald wurde sie durch schrilles Läuten geweckt. Sie angelte den Telefonhörer ans Ohr; es meldete sich Käthi. Das Gespräch dauerte kurz. Gisela hastete zu Brunos Schlafzimmertür, wo sie klopfte, polterte und rief, bis von innen geöffnet wurde. Infernalischer Gestank verschlug ihr den Atem; dicke, schweflige Luft ergoss sich durchs offene Fenster in die Schlafkammer, erfüllte diese schon restlos.

„Bist du bei Trost?!“ schrie Gisela; „Käthi hat angerufen. Ein Chemieunfall! Die chemische Fabrik brennt! Und dein Fenster steht sperrangelweit offen!“

„Ich weiss“, lallte Bruno schläfrig, und er tappte zum Fenster, um es zu schliessen, „ich habe die Sirenen gehört… Wir werden vergiftet.“

„Komm raus aus diesem Gestank!“, rief Gisela und drängte den Mann, die Türe hurtig zuzumachen. Durchs Vestibül schob sie ihn ins Wohnzimmer, und von dort zog sie ihn in ihre Kammer. „Hier stinkt es nicht so entsetzlich. Stell den Transistor an! Käthi hat gesagt, am Radio bringen sie ständig die neuesten Katastrophennachrichten.“

So lauerten sie eng umschlungen in Giselas Bett, zwei verschüchterte Kreaturen, an die Grenzen ihres Daseins gedrängt. Erst, als der Morgen dämmerte, als die Angst allmählich wich, lösten sie sich aus der Umklammerung, misstrauisch durchs geschlossene Fensterglas in den nur fahl beleuchteten Garten spähend, wo ein verstörter Krähenschwarm einflatterte, sich auf den Baumgerippen versammelte; die belegte Stimme des Radiosprechers hatte soeben „Endalarm“ verkündet.

Eine Stunde später verliessen Bruno und Gisela die Wohnung,  traten zusammen in den düsteren Herbstmorgen. Vor dem Haus standen zwei Sanitätsautos. In einen dieser Wagen wurde eine Bahre getragen, auf der  Frau Stöckli lag, Hansjörgs Mutter. Sie sei in der Nacht gestorben, sagte der Sanitäter, der den  betrunkenen Sohn zum anderen Auto führte.

„Gottseidank ist Frau Stöckli erlöst worden“, sagte Gisela, nachdem die zwei Transportautos weggefahren waren und das Ehepaar zur Bushaltestelle weiterging. „Sie konnte einem leid tun. Es war nicht mehr mitanzusehen!“

„Für den Sohn wird es nun schwierig“, bemerkte Bruno; „ohne seine Mama!“

„Auch für ihn gibt’s wohl eine Lösung“, antwortete Gisela; „vielleicht wird er endlich erwachsen.“

Im Bus, auf der Fahrt in die Innenstadt, sassen sich Gisela und Bruno gegenüber, eingepfercht im Gedränge schweigender Fahrgäste. Bruno bleckte stumm sein Gebiss.

Gisela lächelte.

Der Sohn und die Freundin

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von Felix Feigenwinter

Urs erinnerte sich, als kleines Kind den Vater von einer Publikumstribüne hinunter bestaunt zu haben, wie er in einem von Männern und Frauen bevölkerten Saal durch ein Mikrophon sprach. Da er nur mit einer dünnen, hohen, leisen und immer ein wenig belegten Stimme ausgestattet war, fehlte dem Vater die natürliche Möglichkeit zu kräftigen rhetorischen Auftritten. In freien Diskussionen rang er manchmal nach Atem und passenden Formulierungen. Er schob Verlegenheitsworte ein, um Pausen zu füllen, wiederholte oft dieselben Worte, was auf einen beschränkten Wortschatz oder jedenfalls auf eine langsame, etwas schwerfällige Denkweise schliessen liess, die in Gefühlen zu schweben schien. Oft versuchte der Vater mangelnden Scharfsinn hinter zynischen Bemerkungen zu verstecken, oder er hüllte sich in Schweigen, das arrogant, verlegen oder geheimnisvoll erschien, je nachdem, welchen Gesichtsausdruck er gerade zur Schau trug. Früher, als er noch jünger gewesen sei, habe er lebhafter und phantasievoller sprechen können, hatte die Mutter einmal behauptet. Nach verschiedenen Schicksalsschlägen und auch, weil er seine Kräfte unnötig verpufft habe, sei er inzwischen beinahe verstummt, aus Enttäuschung; seine Lebenslust sei dahin.

Je älter Urs wurde und je länger er über diesen Vater nachdachte, desto mehr erstaunte ihn dessen frühere Aktivität. Inzwischen war er ein alter Mensch geworden und längst pensioniert; seine einstigen Bekannten waren gestorben oder hatten ihn fallengelassen, und in den Jahren vor seiner Pensionierung hatte er ein ziemlich unbeachtetes und abgestandenes Dasein in einem Büro verbracht. Als Rentner lebte er nun zurückgezogen im ramponierten Haus seiner Frau, die, so glaubte Urs über seine Mutter zu wissen, den Schein ehelicher Eintracht zu wahren trachtete, den Vater aber nicht wirklich liebte.

Für Urs hatte der Vater eine sozusagen grossmütterliche Ausstrahlung; er verkörperte für ihn keine männliche Kraft. Vielleicht lag das auch daran, dass die Mutter im Familienkreis früher einmal spasseshalber erwähnt hatte, der Vater sei gar kein Mann, sondern eine getarnte Frau. Die Erinnerung daran hatte Urs später verwirrt; manchmal wünschte er, die Ehe der Eltern wäre geschieden geworden. Aber dazu war es jetzt wohl zu spät, und Urs war es schliesslich doch recht, dass er, der „ewige Student“, im Elternhaus zwischen dem grossmütterlichen Vater und der väterlichen Mutter wohnen durfte, irgendwie beziehungslos im Schatten der Eltern. Trotzdem hatte er seiner Freundin mit dem Bekenntnis erschreckt, er könne sich nicht vorstellen, dass seine Eltern stürben; da würde er sich zu verlassen vorkommen.

Der sanften, leicht beschwipsten, aber auch klagenden Stimme ihres Geliebten hatte die Freundin unzähligemale am Telefonhörer gelauscht. Sie hatte sich nicht satthören können. Scheinbar munter hatte sie Urs aufgefordert, nach dem Ertönen des Piepstones ihre Botschaft zu hinterlassen, und sie hatte irgendetwas Zärtliches geflüstert, mehrmals täglich, denn der Geliebte machte sich rar, besuchte sie immer seltener in ihrer kleinen Mietwohnung, legte sich nur noch unter Vorbehalten zu ihr ins Nest: immer häufiger verkroch er sich in seinem Elternhaus, um sich zu „regenerieren“, wie er es nannte. Dort gab er vor, sich seinen Studien zu widmen; in Wirklichkeit lag er verloren auf seinem Bett und hörte Musik, stundenlang Mozart, die letzte Oper Rossinis oder den kräftigen Gesang einer schwarzen Bluessängerin.

Doch eines Abends ereignete sich etwas Ungewohntes. Nach einem unerträglich schwülen Sommertag durchbrauste ein herbstlicher Sturm die Stadt. Als die Freundin telefonierte, erschauderte sie: Urs hatte die vertraute Tonbandstimme ersetzt. Die neue Stimme hörte sich erschreckend abweisend an, unerbittlich streng (zu streng für den zarten, klagenden Jüngling), gleichzeitig tieftraurig, hoffnungslos düster. Und sie verschwamm in den Anfangsklängen zu Mozarts Requiem, die statt des Piepstons ertönten. Die Freundin erkannte die Aufnahme:

Wie oft schon hatte sie diesem himmlischen Trauerkonzert innerlich bebend gelauscht! Nun glaubte sie die Fistelstimme von Urs’ Vater zu vernehmen, der irgend etwas Weinerliches zu äussern schien (vielleicht beschwerte er sich darüber, dass sich der Abschluss von Urs’ Studium immer noch nicht abzeichnete?). Hierauf durchdrang ein Schrei das Requiem. Die Antwort der Mutter galt wohl dem Vater, doch für die Freundin wirkte sie wie ein Befehl an ihre Adresse: „Lass’ meinen Sohn endlich in Ruhe, du machst ihn unglücklich!“

Die Worte der Mutter erschütterten das aufgewühlte Gemüt der Freundin. Sie hatte Urs in der Universität aufgespürt. Zwischen den anderen Studenten, die entschlossen den Hörsälen zustrebten, entdeckte sie einen aparten Jüngling, dessen Sensibilität sie ergriff. Aber seine verletzte Seele war versponnen mit den unglücklichen Seelen seiner Eltern; woher sollte sie, die Freundin, die Kraft nehmen, sie zu erlösen?

Ankündigung im Herrenzimmer

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Von Felix Feigenwinter

Als der Sohn am Abend in die Wohnung seiner Eltern kam, die er seit seinem Auszug vor vielen Jahren nur noch selten besuchte, betrat er vorsichtig das Herrenzimmer seines Vaters und schnupperte den süsslichen Duft angefaulter Aepfel. Seit langem wunderte er sich, warum dieser Raum von den Eltern  „Herrenzimmer“ genannt wurde (Vater hielt sich darin auf; Herren hatten sich hier aber nie versammelt). Die gedrungene Gestalt verharrte am Schreibtisch vor dem Fenster, im abendlichen Gegenlicht wirkte sie wie ein unheimliches, geducktes Tier. Erst als der Sohn nähertrat, bemerkte er, dass der alte Mann eingeschlafen war; er atmete schwer, schnarchte leise vor sich hin, den Kopf zwischen beiden Fäusten festgehalten, die wie Klumpen aus den Armen hervorgekrochen schienen. Auf dem Pult sah der Sohn die Insulinspritze liegen, die der zuckerkranke Vater regelmässig benützte, daneben einen Kugelschreiber und ein beschriebenes Blatt Papier; der Vater hatte  einen Leserbrief an die Lokalzeitung entworfen, einen Diskussionsbeitrag zu einem lokalen Streitthema, eine Erinnerung an frühere Kämpfe. Neben dem Briefentwurf stand ein leeres Trinkglas, dahinter das braune Fläschchen, aus dem der Vater von Zeit zu Zeit Tropfen zur „Anregung und Normalisierung der sekretorischen Funktionen im Magen-Darm-Gallen-Bereich“ zu sich nahm, da er sich davon Linderung seiner chronischen Gastritis erhoffte, schon seit Jahrzehnten, wie es dem Sohn schien. In Griffnähe stand die Obstschale, die vier zum Teil schon angefaulte Aepfel enthielt; eine der Früchte war angebissen, das künstliche Gebiss zeichnete sich im Fruchtfleisch wie ein Mahnmal ab. Der Sohn erinnerte sich, dass Vater früher einmal vergessen hatte, für eine wichtige Versammlung, wo er hätte reden sollen, sein Gebiss anzuziehen – zahnlos war er zur Veranstaltung gefahren. Erst im Versammlungsraum wurde er sich des Mangels bewusst, und er flüchtete panisch nach Hause.

Noch ehe es der Sohn verhindern konnte, rutschte ein Arm des Vaters zur Seite, und die Stirn prallte seitwärts auf die Briefskizze auf dem Schreibtisch. Der alte Mann fuhr auf, lächelte verlegen, als er den Sohn im Abenddämmer entdeckte. „Ist was?“ fragte er leise. In diesem Moment betrat die Mutter das Herrenzimmer und drückte auf den Lichtschalter. Des Vaters Kopf schien nun zu schrumpfen; aus dem runzeligen Gesicht blinzelte es treuherzig ins Helle.

„Es ist etwas vorgefallen, ich muss Euch eine Veränderung ankündigen“ antwortete der Sohn (er wunderte sich, mit welch’ ruhiger und tiefer Stimme er plötzlich sprach), „Ihr müsst hier ausziehen, der  Hausbesitzer hat Euch gekündigt. Das Haus wird abgebrochen. Ich werde Euch fürs Altersheim anmelden!“

Die starken Worte des Sohnes bewegten die Eltern. Die Mutter wich zum Vater, umklammerte mit beiden Händen dessen Schultern.

Der Sohn glaubte, zwei alte Kinder zu sehen, die ihrem Schicksal sprachlos ausgeliefert schienen.